Wie soll für den klassischen Konzertbetrieb ein neues, vor allem jüngeres Publikum gewonnen werden? Diese Frage treibt alle einschlägigen Konzertveranstalter um. Die Tonhalle-Gesellschaft Zürich bietet in der laufenden Saison zwei Abonnements an, die sich ausgesprochen an solche Neulinge richten. Eines davon ist das Abo Einsteiger, das vier populäre Programme mit dem Tonhalle-Orchester unter der Leitung von Chefdirigent Paavo Järvi anbietet. Das erste dieser Einsteiger-Konzerte lockte mit Frédéric Chopins Erstem Klavierkonzert und Ludwig van Beethovens Fünfter Symphonie. Die Rechnung des Veranstalters ist aufgegangen: Der große Tonhalle-Saal war ausverkauft, und der Habitué bemerkte, dass zahlreiche Besucherinnen und Besucher, darunter etliche jüngere Gesichter, anwesend waren, die man sonst nicht antrifft.

Ein Lockvogel der besonderen Art war der 26-jährige Pianist Bruce Liu. Der Sohn chinesischer Eltern wurde in Paris geboren und lebt in Montréal. Schon diese multikulturelle Konstellation an sich ist bemerkenswert. Das Sensationelle an Lius Biographie ist jedoch die Tatsache, dass er 2021 in Warschau den Ersten Preis des Internationalen Chopin-Klavierwettbewerbs gewonnen hat. Und zwar genau mit Chopins Klavierkonzert, das er nun in Zürich zum Besten gab.
Das e-Moll-Konzert ist ein Virtuosenkonzert, bei dem der Fokus ganz auf den Solisten gerichtet ist, während das Orchester sich mit der Rolle des Begleiters abfinden muss. Für das Tonhalle-Orchester war diese Aufgabe selbstredend wenig attraktiv, während Bruce Liu sich voll in Szene setzen konnte. Der junge Pianist besitzt einige Fähigkeiten, die ihm eine großartige Karriere ermöglichen könnten. Technische Virtuosität ist dabei eine Eigenschaft, die beim Gewinner eines solch hochkarätigen Wettbewerbs geradezu selbstverständlich erscheint. Darüber hinaus verfügt Liu über eine ideale Mischung aus mentaler Kontrolle und Freiheit des Spiels.
Das appellative Hauptthema und die aufgedrehten Passagen des ersten Satzes spielte er rhythmisch streng und klanglich fast schneidend, während er sich bei den lyrischen Teilen viele Freiheiten erlaubte. Im langsamen Satz, wo aus dem Orchester nur das Solofagott mit einer eigenen Identität aufwartet, nahm der Pianist die Hörer mit auf eine Traumreise durch eine romantische Klanglandschaft. Dass das alles dennoch nicht zu verzärtelt geriet, darüber wachte der kontrollierende Teil seiner Persönlichkeit. Bei aller Subjektivität waltete da immer auch eine Spur von Objektivität. Einen weiteren Zug Lius lernte man schließlich im dritten Satz kennen: Spritzig und pointiert spielte er das Hauptthema dieses Rondos, das einem Krakowiak, einem polnischen Tanz aus Krakau, nachempfunden ist.
Der Show-Auftritt für Paavo Järvi und das Tonhalle-Orchester kam dann bei Beethovens Fünfter. Die Wiedergabe bewegte sich auf den Standards heutiger Interpretation: schnell, energiesprühend, rhythmisch gestochen, forciert im Hervorheben der Holz- und Blechbläser. Dabei ging Järvi bei einigen Parametern bis hart an die Grenze und bei einem bestimmten sogar darüber hinaus. Dass die Dirigenten sich heutzutage an Beethovens eigenen (schnellen) Metronom-Angaben orientieren, ist Common Sense. Dass einer aber noch schnellere Tempi wählt, ist ungewöhnlich.
In der nachträglichen Erinnerung des Kritikers war das von Järvi gewählte Tempo im ersten Satz ungefähr richtig, in den beiden Mittelsätzen etwas zu schnell, im vierten Satz hingegen merklich schneller als das von Beethoven vorgegebene (halbe Noten = 84). Damit verlor das Finale genau das, was kompositorisch Ziel und Höhepunkt der ganzen Symphonie ist: Der Eintritt des strahlenden C-Dur-Themas, bei dem erstmals auch die Posaunen beteiligt sind, entbehrte bei diesem rasenden Tempo jeglicher Demonstrationskraft. Es schien, als wolle Järvi um jeden Preis das Pathos verhindern, das in vergangenen Zeiten bei der Deutung des Finales üblich war. Was ihm auf jeden Fall gelungen ist, ist der Beweis, dass das exzellente Tonhalle-Orchester auch bei einem so forcierten Tempo noch mithalten kann.