Den Aufwärmer mit dem Sechsminuten-Stück The Unanswered Question von Charles Ives hätte man sich ersparen können. Das Publikum war sowieso gekommen, um der Uraufführung von Bryan Dessners Klavierkonzert beizuwohnen. Aber ein ungeschriebenes Gesetz verbietet es offensichtlich, ein symphonisches Programm mit einem Solokonzert beginnen zu lassen. Ausnahmen bestätigen die Regel.

Alice Sara Ott © Pascal Albandopulos
Alice Sara Ott
© Pascal Albandopulos

Der amerikanische Komponist und Gitarrist, der in der laufenden Saison in Zürich als Creative Chair zu erleben ist, hat sein Klavierkonzert im Auftrag der Tonhalle-Gesellschaft Zürich sowie fünf weiterer europäischer und amerikanischer Orchester komponiert. Gewidmet ist es der Pianistin Alice Sara Ott, der die Ehre des Soloparts zukam, sowie der Choreographin Jessica Reese Dessner, der Schwester des Komponisten.

Die meisten Kenner der amerikanischen Szene bewundern Dessner als Gitarristen der erfolgreichen Rock-Band The National. Doch der Musiker führt künstlerisch ein Doppelleben: Er komponiert auch Orchesterwerke, Filmmusiken und Kammermusik und wird mittlerweile auch von den klassischen Veranstaltern regelrecht umworben. Diese haben entdeckt, dass seine Werke absolut mainstreamtauglich und meilenweit vom Charakter eines Bürgerschrecks entfernt sind.

Als „klassischer“ Komponist bewegt sich Dessner in einem durchaus eigenständigen ästhetischen Feld. Das neue Opus ist also nicht einfach ein Rockkonzert für Symphonie-Instrumente und Klavier. Will man stilistische Bezüge herstellen, fallen einem Komponisten wie John Adams, Steve Reich oder Igor Strawinsky ein. Der erste Satz mit dem Titel Dance like gibt sich rhythmisch forciert und tänzerisch bewegt. Das Klavier tritt jedoch nicht, wie bei den klassischen europäischen Konzerten, als Widerpart des Orchesters in Erscheinung, sondern agiert ständig mit diesem zusammen. Als Beispiel seien die etwas penetranten Basslinien erwähnt, die sowohl in der linken Hand des Klaviers wie auch in abwechselnden Orchesterstimmen erscheinen. Der Klavierpart ist hochvirtuos; Alice Sara Ott gab ihr Bestes, spielte auch die halsbrecherischen Passagen ohne technische Probleme, ging aber im Trubel des Orchesters oft unter.  

Der zweite Satz, Dans un rêve, bildet, trotz einiger ruhiger Stellen, nicht wirklich einen Gegensatz zum ersten, da darin ebenfalls die pulsierenden Elemente überwiegen. Und der dritte, Measured, potenziert die Elemente des ersten, klingt noch wilder, perkussiver, ostinato-beladener. Fazit: wenige kompositorische Ideen werden zu einem vordergründig unterhaltsamen, aber substanziell dünnen 20-Minuten-Stück aufgebauscht. Und der phänomenalen Pianistin hätte man gewünscht, dass sie sich zusätzlich noch in einem für sie vorteilhafteren Stück hätte präsentieren können.

Was dann folgte, war die Symphonie Nr. 4 in G-Dur von Gustav Mahler. Kent Nagano, seines Zeichens Generalmusikdirektor der Hamburgischen Staatsoper, legte eine Interpretation vor, die das Tonhalle-Orchester in schönstem Licht erstrahlen ließ, die aber in ihrer Deutung problematisch war. Wenn man die Symphonie von ihrem Schluss her, dem Vokalsatz mit einem Text der Liedsammlung Aus des Knaben Wunderhorn, deutet, müsste sie in einem kindlichen, zitathaften und auch ironischen Tonfall aufgeführt werden. Nagano hatte nichts Derartiges im Sinn, zumindest in den ersten drei Sätzen nicht.

So geriet schon im Eröffnungssatz vieles zu laut, zu dick aufgetragen, zu dramatisch. Im Scherzo erklang die um einen Ton höher gestimmte Solovioline geradezu giftig, und viele Einzelaktionen wurden zu demonstrativ herausgestellt. Im langsamen Satz kehrte endlich etwas Ruhe und Gelassenheit ein, bevor an dessen Schluss das „Tor zum Himmel“ mit Gewalt aufgerissen wurde. Im Schlusssatz traf Nagano den von Mahler intendierten Tonfall recht gut. Hauptsächlich dafür verantwortlich war aber die norwegische Sopranistin Mari Eriksmoen. Mit heller Stimme und gespielt naivem Tonfall trag sie die Mär von den Freuden im himmlischen Schlaraffenland vor.  

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