Nicht immer ist ein Programm so stimmig wie dasjenige im jüngsten Konzert des Tonhalle-Orchesters Zürich. Mit Kompositionen von Gabriel Fauré und Francis Poulenc waren Spätromantik und Neoklassizismus aus Frankreich angesagt. Ausgiebig kam dabei die Tonhalle-Orgel zum Zug. Und die Frage, was denn nun geistliche Musik sei, erfuhr ganz unterschiedliche musikalische Antworten. Star des Abends war die Organistin Iveta Apkalna. Die Lettin, die als Titularorganistin der Hamburger Elbphilharmonie wirkt, ist in der laufenden Saison Fokus-Künstlerin bei der Tonhalle-Gesellschaft. Nachdem Apkalna bereits im vergangenen November mit einem Orgelrezital aufhorchen liess, konnte man sie nun in einem symphonischen Werk als Solistin erleben.

Poulencs Konzert für Orgel, Pauke und Streicher von 1938 ist wie geschaffen, um die aussergewöhnlichen Qualitäten der Künstlerin ins beste Licht zu rücken. Es handelt sich bei dem Orgelkonzert nicht um ein kirchenmusikalisches Werk im engeren Sinn. Es entstand im Auftrag einer Mäzenin und erlebte seine Uraufführung in einem Pariser Konzertsaal. Ideale Ausgangslage also für eine Interpretation auf der grossen Konzertorgel der Tonhalle, die 2021 im Zusammenhang mit der Restaurierung des Gebäudes von der Orgelbaufirma Kuhn erbaut wurde.
Apkalna erwies sich als sehr vertraut mit den klanglichen Möglichkeiten des Instruments. Ihre Wiedergabe des Soloparts demonstrierte die verschiedenen Facetten des stilistisch heterogenen Orgelkonzerts geradezu beispielhaft. Nachdem sie mit dem eröffnenden Solo in Tutti-Registrierung augenzwinkernd auf die Spur von Bachs g-Moll-Fantasie für Orgel einzuschwenken schien, verband sie sich gleich danach mit dem Paukisten zu einem lieblichen Duett, an das sich eine sinnliche Melodie der Streicher anschloss. In der Folge überraschte die Solistin bald mit seriösen, bald mit ironischen, sentimentalen oder leierhaften Tonfällen. Zu einem Ratespiel für das Publikum gerieten zudem die weiteren echten oder vermeintlichen Zitate aus bekannten Werken der Musikliteratur. Mit ihrer Interpretation lag Apkalna auf einer Linie mit dem Dirigenten Paavo Järvi, der seine Streicher ebenfalls durch alle möglichen stilistischen Wechselbäder führte. Für den tosenden Applaus bedankte sich die Organistin mit einer fulminanten Wiedergabe der Toccata aus Widors Fünfter Orgelsymphonie.
Spannend war die Gegenüberstellung der beiden Vokalwerke Faurés, bei denen die Zürcher Sing-Akademie (Einstudierung: Florian Helgath) zum Zug kam. Mit der Psalmvertonung Super flumina Babylonis und dem Requiem standen ein Frühwerk und eine grossartige Komposition der Reifezeit zum Vergleich an. Inhaltlich verbinden sich die beiden Werke durch das Thema der Heimkehr: Super flumina thematisiert die Sehnsucht des in Babylon gefangenen israelitischen Volks nach Rückkehr in die Heimat, das Requiem spricht die Sehnsucht des gläubigen Menschen aus, nach dem Tod in das Paradies einzuziehen. In der Psalmvertonung, einem Wettbewerbsstück des erst 18 Jahre alten Komponisten, rührt Fauré unbekümmert mit der grossen symphonischen Kelle an. Järvi griff diesen jugendlichen Überschwang auf und liess den Chor und das Tonhalle-Orchester ein üppiges Klanggemälde gestalten.
Beim Requiem für Solisten, Chor, Orgel und Orchester hat sich Järvi für die normalerweise gespielte Fassung von 1900 entschieden. Schade, denn mit der früheren Fassung von 1893 wäre der Kontrast zu Super flumina noch grösser gewesen. In der späteren Fassung hat Fauré, wohl auf Drängen seines Verlegers, noch Holzbläser, eine Verstärkung des Blechs und chorische Besetzung der ersten Violinen (statt einer Solovioline) hinzugefügt. Die schlankere Frühfassung würde indes dem grundsätzlich lyrischen Charakter des Requiems besser gerecht. Bezeichnend ist ja, dass Fauré ausgerechnet die Totensequenz Dies irae mit ihren drastischen Bildern vom Jüngsten Gericht nicht vertont hat. Järvi suchte trotzdem nach den spärlich vorhandenen dramatischen Stellen und strich diese kräftig heraus, so etwa im Sanctus bei „Hosanna in excelsis” oder im Libera me, wo der lateinische Text kurz auf den „Tag des Zorns” anspielt. Hier durften auch die drei Posaunen und die vier Hörner einmal kräftig auftrumpfen.
Uneinheitlichkeit der Deutung herrschte bei den beiden Solisten. Während der Bariton Rodion Pogossov das „Hostias” mit vibratoreicher, opernhafter Stimme interpretierte, gestaltete die Sopranistin Giulia Semenzato den Satz Pie Jesu mit schlichter Tongebung und traumwandlerischem Gang. Starke Eindrücke hinterliess die Sing-Akademie. Intonationssicherheit, betörende Homogenität auch bei den leisesten Stellen und Ausschöpfung des dynamischen Potenzials sind die hervorragendsten Qualitäten des Zürcher Profichors. Der Schlusschor In paradisum, wo die Sopranistinnen, begleitet von Harfe und Orgel, sich wie Engelsstimmen anhörten, rührte einen zu Tränen.