Dmitri Schostakowitsch lebt in der breiten Öffentlichkeit vor allem als Schöpfer von Symphonien weiter. Dass der russische Komponist neben seinen fünfzehn Symphonien auch ebenso viele Streichquartette komponiert hat, ist dagegen weniger bekannt. Das liegt nicht nur daran, dass allgemein bei den Klassik-Liebhabern das Interesse für Kammermusik hinter demjenigen für symphonische Musik steht. Im Speziellen liegt es auch daran, dass das bei den Symphonien übliche Rätselraten um deren politische Bedeutung bei den Streichquartetten eine untergeordnete Rolle spielt.

Jerusalem Quartett © Felix Broede
Jerusalem Quartett
© Felix Broede

Anlässlich des 50. Todestags von Schostakowitsch in diesem Jahr hat die Tonhalle-Gesellschaft Zürich das renommierte Jerusalem Quartett eingeladen, sämtliche Streichquartette des Komponisten aufzuführen. Nachdem das Ensemble im Januar die ersten neun Quartette präsentiert hatte, spielte es nun am vergangenen Wochenende die Quartette zehn bis fünfzehn. Die Reverenz des israelischen Jerusalem-Quartetts an Schostakowitsch steht auch im Zusammenhang mit einem eigenen Jubiläum, nämlich dem 30-jährigen Bestehen des Ensembles. Die Totale der fünfzehn Streichquartette wird deshalb in diesem Jahr und anfangs des nächsten weltweit in neun verschiedenen Städten dargeboten.

Im Konzert vom Sonntagnachmittag in der kleinen Tonhalle stehen die letzten drei Streichquartette auf dem Programm. Wer das Jerusalem-Quartett kennt, bemerkt gleich die geänderte Besetzung. Neben dem Primarius Alexander Pavlovsky, dem zweiten Geiger Sergei Bresler und dem Cellisten Kyril Zlotnikov – alle drei Gründungsmitglieder des Ensembles – sitzt neu der Bratscher Alexander Gordon auf dem Podium. Ori Kam, der seit 2011 Ensemblemitglied war, hat das Quartett im Oktober 2025 auf eigenen Wunsch verlassen. Nun beginnt das Streichquartett Nr. 13, Op.138 ausgerechnet mit einem Bratschensolo, dem zwölftönigen Thema des Werks. Gordon intoniert es mit sehr sonorer Tongebung, und auch im Verlauf des einsätzigen Stücks hat man den Eindruck, dass sich der Neuling gegenüber den Kollegen noch etwas im Profilierungsmodus befindet.

Wer im Publikum nicht darauf vorbereitet war, was ihn oder sie mit dieser Musik erwarten würde, erlebte möglicherweise eine krasse Überraschung. In den drei letzten Quartetten widerspiegeln sich Schostakowitschs Erfahrungen mit seiner Krankheit und die Aussicht auf seinen bevorstehenden Tod. Die häufigste Vortragsbezeichnung lautet dementsprechend Adagio. Sie kommt insgesamt zehnmal vor und gipfelt im 15. Streichquartett, das aus sechs Adagio-Sätzen besteht. Um sowas als Hörer auszuhalten, braucht es eine stoische Gelassenheit, was dem Kritiker – es sei zugegeben – zeitweise nicht wirklich gelingt.

Einen leisen Hoffnungsschimmer bringt das Streichquartett Nr. 14, Op.142, das einzige in einer Dur-Tonart. Das Adagio des mittleren Satzes ist hier von zwei Allegretto-Sätzen eingerahmt. Gleich zu Beginn des ersten Satzes intoniert der Cellist ein tänzerisches Thema, das dann von den Kollegen aufgenommen wird. Und im dritten Satz übersetzen die Musiker gekonnt den Willen des Komponisten, für einmal eine extravertierte Musk zu schreiben. Doch im zweiten Teil kippt die Stimmung wieder, und am Ende wird die Adagio-Musik des zweiten Satzes zitiert.

Die totale Depression herrscht schließlich im Streichquartett Nr. 15, Op.144. Doch im Spiel des Jerusalem-Quartetts ist Adagio nicht gleich Adagio. Die vier Streicher verstehen es, jedem der sechs Sätze ein eigenes Gesicht der Trauer zu geben: In der Serenade schimmert zum letzten Mal etwas Wärme auf, im Trauermarsch erklingt das Zitat aus Beethovens Dritter Symphonie sogar etwas auflehnend, bevor dann im Epilog der Tod vor der Türe lauert. Das ist spielerisches Können in höchstem Maß! Und ein uneitles Musizieren ganz im Dienst des Werks. Man darf gespannt sein, wie sich das Jerusalem Quartett mit dem neuen Bratscher weiterentwickeln wird. 

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