Goethe hat das Wesen eines Streichquartetts bekanntlich so umrissen: „Man hört vier vernünftige Leute sich unterhalten, glaubt ihren Diskursen etwas abzugewinnen und die Eigentümlichkeiten der Instrumente kennen zu lernen.” Diese Aussage kam einem spontan in den Sinn, als man während zwei Stunden den Mitgliedern des französischen Quatuor Ébène lauschte. Möglich wurde dies bei einem Kammermusikabend im Mozarteum im Rahmen der Salzburger Festspiele. Ihr Musizieren hört sich tatsächlich wie ein Räsonieren in Tönen an, als Rede und Gegenrede unter vier intelligenten und sensiblen Musikern. Und was die Instrumente betrifft, halten sie mit ihren Stradivari, Guarneri, Holmayr und Grancino die teuersten Labels in den Händen.

1999 in der französischen Provinz gegründet, fand das Quatuor Ébène fünf Jahre später als Gewinner des ARD-Musikwettbewerbs erstmals internationale Beachtung. Als die vier Musiker 2019/20 im Rahmen einer Welttournee alle Streichquartette Beethovens aufführten und einspielten, waren sie definitiv im Olymp der Streichquartette angekommen. Heute besteht das Ensemble aus den beiden Gründungsmitgliedern Pierre Colombet und Gabriel Le Magadure (Violinen), der 2017 dazugekommenen Bratschistin Marie Chilemme und dem erst seit einigen Monaten mitwirkenden japanischen Cellisten Yuya Okamoto.
In Salzburg stand kein Beethoven auf dem Programm, dafür drei Komponisten, welche die Vielfalt des Ensembles in das schönste Licht rückten. Mozarts Streichquartett D-Dur, KV 575, eines seiner drei „Preußischen Quartette“, konnte man als Reverenz an den in Salzburg geborenen Klassiker verstehen (obwohl das Quartett 1789 in Wien entstanden ist). Zugleich bot es dem neuen Cellisten die Gelegenheit zu einer Visitenkarte: Im ganzen Quartett spielt das Cello eine wichtige Rolle; im Trio des dritten Satzes übernimmt es sogar die Führung, während die Bratsche die Bassfunktion wahrnimmt. Der Japaner scheint, so hat man nach diesem Mozart den Eindruck, gut im Terzett der drei Franzosen angekommen zu sein.
Er gefällt durch einen sensiblen, hellwachen Charakter, hat allerdings einen Rest von Scheu noch nicht ganz abgelegt. Bei den beiden Geigern überlegt man sich, wie es wohl wäre, wenn sie ihre Rollen tauschen würden: Pierre Colombet ist ein urmusikalischer, aber eher introvertierter Typ, jedenfalls kein Primarius, wie man ihn sich normalerweise vorstellt. Über genau diese Eigenschaften verfügt der extravertierte Gabriel Le Magadure an der zweiten Violine. Marie Chilemme ist eine ausgesprochene Integrationsfigur und gefällt mit ihrem ausdrucksvollen, „sprechenden“ Gesicht.
Dass aus diesen vier unterschiedlichen Charakteren dennoch eine große Unité de doctrine und ein erstaunlich homogener Klang resultiert, ist ein kleines Wunder. Aber tatsächlich: Während das Mozart-Quartett übereinstimmend in einem apollinischen Geist musiziert wurde, hatten es die vier Musiker bei Alfred Schnittkes Streichquartett Nr. 3 aus dem Jahr 1983 ganz auf das Herausstreichen der gegensätzlichen Stilelemente abgesehen. Was für ein Unterschied zu Mozart! Da standen die zitierten Motive von Lasso, Beethoven und Schostakowitsch unversöhnlich den atonalen und wenig fasslichen Passagen der übrigen Teile gegenüber. Zitathafter Schönklang versus kompromisslose Moderne – das kam in der Wiedergabe sehr eindrucksvoll zum Klingen.
Nochmals in eine andere Welt führte das Streichquartett G-Dur, D887 von Franz Schubert. Das letzte der 15 Streichquartette dauert geschlagene fünfzig Minuten und ist ein Koloss symphonischen Ausmaßes. Zu dem Werk angeregt worden war Schubert durch die Wiener Uraufführung von Beethovens B-Dur-Quartett, Op.130 in der Fassung mit der Großen Fuge als Finale. Eine Kopie desselben ist es trotzdem nicht geworden. Das Quatuor Ébène lief in seiner Interpretation zu Höchstform auf. Das Symphonische und das Kammermusikalische, das Musikantische und das Gelehrte, das Dramatische und das Lyrische, das Irdische und das Jenseitige – alles fand in der Wiedergabe seinen gebührenden Platz. Nach dem stürmischen Beifall wollten die Musiker verständlicherweise keine Zugabe mehr geben. Ihre Schubert‘schen „Diskurse“ sollten in den Ohren des Publikums noch lange nachklingen.