Wie kommt es, dass ein so renommierter Klangkörper wie das Orchestre de Paris nach Lugano kommt? Die Kleinstadt im Tessin ist ja nicht gerade der Nabel der musikalischen Klassikwelt. Zu verdanken ist das Ereignis Etienne Reymond, dem Direktor von LuganoMusica seit dem Jahr 2013. Bereits in seiner ersten Saison hatte Reymond es geschafft, Bernard Haitink und weitere Größen nach Lugano zu locken, und damit war der Bann gebrochen. In der zu Ende gehenden Saison 2022/23 fanden beispielsweise das Concertgebouworkest, das Budapest Festival Orchestra oder das Philharmonia Orchestra den Weg ins LAC , der Heimspielstätte von LuganoMusica.

Seit 2021 steht das Orchestre de Paris unter der Leitung von Klaus Mäkelä. Der erst 27 Jahre junge Finne begann seine Karriere als Cellist; und nun wartet der Senkrechtstarter mit Spannung auf die Saison 2027/28, in der er, als bisherige Krönung seiner Laufbahn als Dirigent, die Stelle als Chefdirigent des Concertgebouworkest übernehmen wird. Die Stelle ist, seit Daniele Gattis unrühmlichem Abgang im Jahr 2018, verwaist. In Lugano ergab sich die Gelegenheit, die Persönlichkeit und die Führungsqualitäten Mäkeläs intensiv kennen zu lernen. In einem (mit Pause) zweieinhalbstündigen Programm standen Rachmaninows Paganini-Variationen und Schostakowitschs Siebente Symphonie einander gegenüber. Mit der Programmierung von russischer Musik hat Etienne Reymond, trotz des russischen Aggressionskriegs, keine Probleme. Zurecht weist er darauf hin, dass beide Komponisten ja Opfer des politischen Systems waren: Rachmaninow floh infolge der Oktoberrevolution ins amerikanische Exil, und Schostakowitsch musste stets damit rechnen, eines Tages nach Sibirien verschleppt zu werden.
Solistin in der Rhapsodie über ein Thema von Paganini für Klavier und Orchester, wie das Werk offiziell heißt, war Beatrice Rana. Die temperamentvolle 30-jährige Italienerin legte eine fulminante Interpretation des Soloparts hin. Der Name Paganini steht zurecht für den Teufelsgeiger, und nicht zufällig kommt in einigen Variationen neben dem Paganini-Thema auch die Dies irae-Melodie vor. Gemäß einem inoffiziellen Programm des Komponisten wird da auf einen Teufelspakt des Geigers angespielt. Technisch scheint Rana überhaupt keine Probleme zu kennen. Gerade bei den wildesten Passagen blühte sie richtig auf, aber auch die intimeren Stellen gelangen ihr überzeugend. Die Kommunikation mit dem Dirigenten und dem Orchester klappte bestens. Beeindruckend, wie die Solisten ihre verschiedenen Rollen als Anführerin, Begleiterin oder Konkurrentin der Orchestermusiker realisierte.
Waltete Mäkelä bei den Paganini-Variationen noch vorwiegend als Vermittler, schlug dann seine Stunde definitiv bei Schostakowitschs „Leningrader” Symphonie. Tatsächlich hatte der Komponist den zweiten und den dritten Satz des Werks 1941 im von den Nazi-Truppen belagerten Leningrad geschrieben. In der Rezeption stehen sich seither zwei diametral entgegengesetzte Deutungen gegenüber: In der sowjetischen bzw. russischen Lesart verherrlicht sie den Sieg Stalins über Hitler und ist ein Symbol des Antifaschismus. In westeuropäischer Deutung prangert Schostakowitsch, wenn auch versteckt, die Schrecken der Stalinistischen Gewaltherrschaft an.
Hört man sich Mäkeläs Interpretation an, hat man den Eindruck, der Dirigent futiere sich um solche politischen Hintergründe. Ob nun bei der berüchtigten Steigerung des Invasionsthemas im ersten Satz die deutschen oder die russischen Aggressoren heranrücken, scheint ihm egal zu sein. Ihn interessieren, ganz vordergründig, die klanglichen und die dynamischen Implikationen dieses Satzes, der, anders als Ravels Bolero, nicht auf dem Höhepunkt, sondern in einem klagenden Gestus endet. Überhaupt deutet Mäkelä diese Symphonie aus den größtmöglichen Gegensätzen heraus. Im zweiten Satz etwa prallt die idyllische Stimmung des Anfangs jäh auf einen extrem giftigen Mittelteil, wonach ein Duett zwischen der Bassklarinette und den zwei Harfen eine unsägliche Trauer ausdrückt. Im dritten Satz, dem Adagio, stellt der Dirigent die unüberbrückbare Kluft zwischen feierlichem Choral und groteskem Marsch scharf heraus.
Im Umgang mit dem Orchester erweist er sich als Charismatiker, der die Musikerinnen und Musiker zu Höchstleistungen anspornt. Ein bisschen weniger Showelemente wären allerdings angebracht. Und ab und zu geht das Temperament mit ihm einfach durch. Das Finale dürfte, auch wenn Schostakowitsch ihm ursprünglich die Satzbezeichnung „Sieg” gegeben hat, nicht derart ohrenbetäubend enden. Dieser Exzess ist offensichtlich dem jungen Alter des Dirigenten zuzuschreiben. Bis Mäkelä dereinst die Chefposition beim Concertgebouw antreten wird, bleiben ihm nun noch vier Jahre Zeit zum Reifen. Doch bereits heute steht fest: Dieser Dirigent hat das Rüstzeug für eine große Karriere.