Natürlich handelt es sich bei dem Ich in Wilhelm Müllers lyrischem Zyklus Winterreise um einen Mann. Eine Beziehung ist zerbrochen, der Jüngling hat seine Geliebte, „das Mädchen”, verlassen, die Gründe bleiben im Dunkeln. Großes Leid treibt ihn umher, auch große Sehnsucht, bis hinein in tiefe Einsamkeit, schließlich in Verzweiflung und Todesgedanken. Am Schluss kennt er nur noch Resignation. Doch, was ist mit der verlassenen jungen Frau? Joyce DiDonato hat sich diese Frage gestellt, als der Plan reifte, gemeinsam mit Yannick Nézet-Séguin Schuberts Liederzyklus aufzuführen. Sie sagt, besonders identifiziere sie sich als Sängerin mit den Rollen solcher Frauen, die nach einer verlorenen Liebe zurückbleiben. Deren Geschichte bleibe unerzählt, wie die der Charlotte in Massenets Werther. So nimmt sie sich bei den Liedern der Winterreise des verlassenen Mädchens an, schlüpft in dessen Rolle, in der sie als nunmehr gealterte Frau den Gefühlen des verlorenen Geliebten nachspürt – und ihren eigenen.
Es ist ein inszenierter Liederabend im Festspielhaus Baden-Baden, allerdings mit äußerst dezenten Mitteln: Die Sängerin im grauen Haar sitzt an einem kleinen Lesepult und blättert im Tagebuch, das „er ihr per Post schickte”, das Tagebuch eben aus jenen Liedern. Sie liest darin wie jemand, der in dem Text einem fremden Leben nahe zu kommen versucht, nicht wie eine Sängerin, die aus der Partitur ihren Part abliest. Nicht selten haben Sängerinnen die Winterreise aufgeführt, aber so überzeugend wie Joyce DiDonato ist wohl dieser Fachwechsel noch nie gelungen. Denn mit ihrer vokalen Gestaltungskunst vermag sie eindrücklich die Emotionen des männlichen Ichs der Lieder in den eigenen Gefühlen dieser weiblichen Rollenfigur zu spiegeln.
Wenn in den Liedern direkt von diesem verlassenen Mädchen die Rede ist, lässt DiDonato besonders ihre tiefe Identifikation mit dieser Rollenfigur erkennen, etwa mit einem nachdenklichen Blick ins Leere oder einer kurzen Versenkung ins Innere. Aber nicht allein subtile gestische und mimische Mittel setzt sie ein, um eigene, tiefe Anteilnahme auszudrücken, ihre vokale Gestaltung ist es vor allem, die so tief berührt. „An dich hab ich gedacht” gleich im ersten Lied oder im fünften „Da ist meiner Liebsten Haus” – mit großem Einfühlungsvermögen für die schmerzliche Erinnerung des Mannes und zugleich in wehmütiger Rückschau auf ihr eigenes Erleben macht sie in Ausdruck und Färbung der Stimme die emotionale Tiefe von Text und Musik unmittelbar spürbar. Ihre überragende Vokalkunst erlaubt ihr feinste, subtilste Nuancen, wie die sacht bewegten Triolen („weht daher ein lauer Wind”) in Wasserflut. In Rückblick ist es kein Wanken, welches den Jüngling am liebsten zum Haus seiner ehemals Geliebten zurückführen würde, sondern die Sängerin lässt ihn dorthin eilen, fast stürzen, so als wünsche sich ihre Rollenfigur seine tatsächliche Rückkehr. Eine wunderschön zurückgenommene mezza voce ebenso wie die groß gestaltete Emphase verstärken die dramatische Wirkung ihres Gesangs, ohne je in oberflächliche Effekte abzugleiten.
Yannick Nézet-Séguin ist ihr ein kongenialer Begleiter. Er gestaltet den Klavierpart ungemein filigran und nuancenreich mit grandios sensiblem Anschlag und reizt dessen expressive Bandbreite weit aus. Eindrucksvoll arbeitet er heraus, wie das Klavier die Erzählung erweitert, ergänzt und kommentiert. So bekräftigt er in trotzig energischen fortissimo-Akkorden fatalistische Entschlossenheit („Nur weiter denn, nur weiter, mein treuer Wanderstab„) oder zeichnet im fünfzehnten Lied die Flugbewegungen der Krähe in sanften Linien nach. Posthorn, Lindenbaum oder Erstarrung werden zu plastischen Klangbildern. Hier spielt ein Pianist mit dem Gespür des Dirigenten für Klangfarben und feinste Abstufungen des Ausdrucks.
Ein großer Abend, der mit der Zugabe An die Musik die berührende Kraft dieser Kunst noch einmal bestätigt.