Was kann man über die Wiederaufnahme einer Operninszenierung schreiben, die bereits 2019 herausgekommen ist? Beim Bayreuther Tannhäuser scheint alles bereits gesagt. Auf Bachtrack haben Zoltán Szabó über die Premiere und Michael Vieth über die Aufführungen des letzten Sommers geschrieben. In der Beurteilung aber waren sich die zwei Kritiker uneins. Beide haben bemerkt, dass Tobias Kratzer den üblicherweise betonten Konflikt zwischen erotischer und sublimierter Liebe durch das Aufeinanderprallen zweier sozialer Gruppen ersetzt: Hier die befreite Aussteigertruppe um Venus – dort die in Konventionen gefangene Gesellschaft der Wartburg. Doch gerät dieser Ansatz mit Wagners Libretto und Musik in Konflikt, oder begeistert die originelle und unkonventionelle Inszenierung?

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Klaus Florian Vogt (Tannhäuser), Irene Roberts (Venus) und Manni Laudenbach (Oskar)
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Das Ärgernis der Kratzer-Inszenierung bildet tatsächlich diese schräge Outlaw-Gruppe um Venus, die Bühnen- und Kostümbildner Rainer Sellmaier mit einem Citroën-Kleinbus auf die Reise schickt. Zur Truppe gehören nicht nur der als Clown verkleidete Tannhäuser, sondern auch zwei Gestalten, die Wagner nicht vorgesehen hat: Es sind der Show-Künstler Le Gateau Chocolat, der als Drag-Queen auftaucht, und der Schauspieler Manni Laudenbach, der den kleingewachsenen Oskar aus Günter Grass’ Blechtrommel mimt. Die Truppe lebt nach dem Motto „Frei im Wollen, frei im Tun, frei im Geniessen, sollt ihr den Wert des Lebens erkennen” (Wagner, Die Revolution) und steht für den revolutionären Wagner der 1840er Jahre. Gespielt wird denn auch die Dresdener Fassung des Tannhäusers von 1845.

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Le Gateau Chocolat, Irene Roberts (Venus) und Klaus Florian Vogt (Tannhäuser)
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Gerade der zweite Akt erhält durch die Mitwirkung der Truppe am Sängerwettstreit eine erfrischend neue Deutung. Venus schleicht nämlich als Edelknabe in die Wartburg und bringt die sowieso schon aufgeheizte Stimmung unter den Kandidaten – als Preis winkt die Ehe mit Elisabeth, der Nichte des Landgrafen – noch zusätzlich zum Kochen. Dass dann Le Gateau Chocolat nach geschlagener Schlacht auch noch die Regenbogenfahne hisst, ist jedoch geschmacklos. Kratzers Regieansatz funktioniert grundsätzlich trefflich und ermöglicht etliche erfrischende und neue Lesarten. Manchmal wird jedoch zu dick aufgetragen; manchmal muss auch die Handlung gar stark zurechtgebogen werden. Dass Elisabeth im dritten Akt, nachdem sie vergeblich auf den Rom-Heimkehrer Tannhäuser gewartet hat, sich auf die sexuellen Avancen Wolframs einlässt, bevor sie sich die Pulsadern aufschneidet, steht nirgends im Libretto.  

Das zweite Standbein der Inszenierung bildet die von Manuel Braun verantwortete Ergänzung der Bühnenhandlung durch Videos und Live-Cams. Während der Ouvertüre scheint man über die Wartburg zu fliegen, sichtet den Citroën der Aussteiger-Truppe und beobachtet Oskar, der vor dem Bild des 2023 verstorbenen Tenors Stephen Gould einen Shot trinkt. Sehr anregend ist im zweiten Akt die Doppelbödigkeit des Geschehens: Während sich auf der Bühne der inszenierte Sängerwettstreit abspielt, lässt eine darüber aufgehängte Leinwand in die Backstage-Räume blicken, wo wir, etwas voyeuristisch, das Verhalten der Protagonisten vor und nach ihren Auftritten beobachten können. So attraktiv solche Anreicherungen für das Auge sind, so lenken sie doch manchmal von der Musik ab.

Klaus Florian Vogt (Tannhäuser) und Irene Roberts (Venus) © Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath
Klaus Florian Vogt (Tannhäuser) und Irene Roberts (Venus)
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Musikalisch handelt es sich beim heurigen Tannhäuser keineswegs um eine Wiederaufnahme. Denn hier ist, im Vergleich zu 2019, einiges neu. Nathalie Stutzmann ist, nach dem glücklosen Valery Gergiev des Premieren-Sommers und dem Nachfolger Axel Kobe, bereits die dritte Dirigentin der Produktion und darüber hinaus erst die zweite Frau, die an den Bayreuther Festspielen dirigieren darf. Wie schon letztes Jahr überzeugt sie auch diesmal mit einer ausgereiften Interpretation. Als Orchesterdirigentin, die gerne die romantischen Riesenwerke leitet, ist sie für den Umgang mit dem Festspielorchester bestens gerüstet. Die Ouvertüren und der Einzug der Gäste auf der Wartburg lassen eine vielschichtige und dramatisch orientierte Gestaltung der instrumentalen Schicht erkennen. Als ehemaliger Sängerin gelingt es Stutzmann zudem, die Klänge aus dem Graben bestens mit dem Gesang auf der Bühne zu koordinieren, die Sänger zu führen und ihnen doch ihre Freiheiten zu lassen.

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Irene Roberts (Venus), Manni Laudenbach (Oskar) und Le Gateau Chocolat
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Ebenso erst seit letztem Jahr dabei ist Klaus Florian Vogt in der Titelrolle. 2023 sprang er für den erkrankten Stephen Gould ein, und nach dessen überraschendem Tod ist er nun für 2024 regulär engagiert worden. In die Fussstapfen des Wagner-Urgesteins und Publikumslieblings Gould zu treten, bedeutete für Vogt eine echte Herausforderung. Nach dem Schlussapplaus der Wiederaufnahme-Premiere kann man feststellen: Er hat es geschafft! Stimmlich mit einem fabelhaften Tenor gesegnet, schlüpft er spielerisch in die verschiedensten Rollen: den Clown der Venus, den Konkurrenten der minnesingenden Kollegen, den scheinbar reumütigen Rompilger.

Elisabeth Teige als Elisabeth ist auf dem Grünen Hügel keine Unbekannte. Für einen Sopran klingt ihre Stimme relativ dunkel und warm timbriert. Die eigentlich passive Rolle der leidenden und sich aufopfernden Frau verwandelt sie – natürlich im Sinne der Regie – in eine selbstbewusste und sinnliche Figur. Ganz neu in der Produktion und überhaupt in Bayreuth ist Irene Roberts, die vier der sechs Vorstellungen singt. Ihr Mezzosopran – man hört es gleich in der eröffnenden Venusbergszene – klingt sehr modulationsfähig, kann ebenso verführen wie verfluchen. Darstellerisch ist die Amerikanerin, als Blondine im Glitzerkleid aufgemacht, für jeden Klamauk zu haben. Und sie ist sich nicht zu schade, auch in der schrägen Show nach dem ersten Akt unten am Teich beim Aufgang zum Festspielhaus mitzumachen.

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Tannhäuser: 2. Akt
© Bayreuther Festspiele | Enrico Nawrath

Markus Eiche als Wolfram ist schon von Anfang an dabei. Im Sinne der Regie mimt er nicht nur den platonischen Liebhaber Elisabeths, sondern ergreift seine Chance, nachdem Tannhäuser das Interesse an ihr verloren hat. Ein sicherer Wert ist Günther Groissböck als Landgraf Hermann, der die Rolle mit stimmlicher Fülle und charakterlicher Noblesse realisiert. Zum Schluss sei noch der hervorragende Festspielchor (Einstudierung: Eberhard Friedrich) erwähnt, der musikalisch und szenisch starke Akzente setzt. Als Pilgerchor im ersten Akt stecken die Choristen mitnichten in braunen Kutten, sondern in glamouröser Konzertkleidung und parodieren derart genüsslich das Festspielpublikum. 

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