Lahav Shani, 1989 in Tel Aviv geboren, ist längst kein Unbekannter mehr. Die Zeit, als der Pianist und Dirigent als Geheimtipp gehandelt wurde, ist definitiv vorbei. Seitdem er 2018 zum Chefdirigenten des Rotterdam Philharmonic Orchestra gewählt wurde, schaut die Klassikwelt mit Spannung und Erwartung auf ihn. Mit Beginn der Saison 2020/21 übernahm Shani, als Nachfolger von Zubin Mehta, das Israel Philharmonic Orchestra. Und 2026 wartet mit dem Chefposten bei den Münchner Philharmonikern bereits der nächste Karriereschritt des Senkrechtstarters.

Wenn das Israel Philharmonic seit dem Beginn des Gaza-Kriegs irgendwo in Europa gastiert, ist stets mit politischen Kundgebungen zu rechnen. So verhielt es sich auch beim Gastkonzert in Lugano. Die Konzertbesucher – vorwiegend israelfreundlich gestimmte Damen und Herren – mussten die Eingangstüren zum LAC an einer Gruppe von Demonstrierenden vorbei passieren, die Transparente wie „Stop al genocidio del popolo palestinese“ trugen und den Slogan „Free Palestine“ skandierten.
Auch im Saal drinnen ging es zunächst hochpolitisch zu. Vor dem Konzert lud die Tessiner Sektion der Vereinigung Schweiz-Israel, anlässlich des internationalen Holocaust-Gedenktages vom 27. Januar, zu einer halbstündigen Veranstaltung ein. Der emeritierte Immunologe Ivan Lefkovits berichtete dabei über seine Befreiung aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen durch die britische Armee im Jahr 1945.
Das Israel Philharmonic Orchestra nahm diesen Faden auf, indem es zur Eröffnung das Stück Prayer des israelischen Komponisten Tzvi Avni interpretierte. Das kurze Werk für Streicher wechselt im Charakter zwischen elegischen und aufwühlenden Abschnitten. Zur Hauptsache war das Programm indes drei russischen Kompositionen gewidmet, die die russische Seele in ganz unterschiedlichen Fazetten zum Erklingen bringen. Und das zudem darauf ausgelegt war, Shani in seiner Doppelrolle als Pianist und Dirigent ins Rampenlicht zu stellen.
Dieses Ansinnen gelang zu hundert Prozent. Modest Mussorgskys Ouvertüre zur Oper Chowanschtschina war schnell vergessen, als Shani als Solist in Schostakowitschs Konzert für Klavier und Orchester Nr. 2 auf die Bühne trat. Das Zweite Klavierkonzert ist allerdings kein typischer Schostakowitsch, so wie man ihn aus den Symphonien kennt. Es fehlt ihm die Hintergründigkeit und Doppelbödigkeit; stattdessen breitet es eine ungewöhnliche Heiterkeit und Jugendfrische aus, was sich aus der Widmung an Schostakowitschs Sohn Maxim erklären lässt. Shani setzte diesen unproblematischen Charakter instinktsicher um und betonte die spielerischen, frechen und virtuosen Seiten des Werks. Dabei klappte die Koordination mit dem Orchester, das weitgehend auf die Führung seines Konzertmeisters angewiesen war, hervorragend.
Hauptstück des Abends und Nagelprobe für Shani als Dirigenten bot die Symphonie Nr. 5, Op.64 von Tschaikowsky. Shani dirigierte auswendig und ohne Taktstock. Überhaupt schlug er nicht, sondern modellierte den symphonischen Verlauf mit Händen, Armen, ja dem ganzen Körper. Als Charakter repräsentiert Shani einen neuen Typus selbstbewusster, aber dennoch partizipativer Dirigenten, die sich nicht auf den Sockel stellen, sondern mit dem Orchester auf Augenhöhe musizieren. Man hat Tschaikowskys Fünfte als Kritiker ja schon unzählige Male gehört, aber diese Wiedergabe löste auch beim verwöhntesten Hörer helle Begeisterung aus. Was für eine Einheit zwischen dem Dirigenten und dem Orchester! Was für aufregende Spannungskurven, in jedem der vier Sätze wieder anders gestaltet!
Voller Dramatik, mit ständigem Anziehen und Loslassen, gestaltete Shani den ersten Satz. Leidenschaft und fesselnde Dramaturgie beherrschte das Andante cantabile, dessen Spannungskraft vom liedhaften Hornsolo des Anfangs bis zu den beiden wilden Ausbrüchen des Schicksalsmotivs reichte. Der Walzer erschien richtigerweise als leichtfüßige Zwischenaktmusik. Und beim Finale konnte man erneut Shanis geschickte Dosierung der Höhepunkte bewundern, die im triumphalen E-Dur-Schluss kulminierten. Das Israel Philharmonic zeigte sich an diesem Abend von seiner besten Seite, und das Publikum realisierte zum Schluss, eine musikalische Sternstunde erlebt zu haben.