Dass die klassischen Konzertveranstalter stets den Kanon der immergleichen Werke anbieten würden, ist eine Behauptung, die manchmal nicht zutrifft. Mit Béla Bartóks Zweitem Violinkonzert und Carl Nielsens Fünfter Symphonie präsentierte das Tonhalle-Orchester Zürich in seinem jüngsten Konzert zwei Stücke, von denen das eine nur am Rand zum Repertoire gehört und das andere gar nicht dazuzählt.

Die Eröffnung mit Ludwig van Beethovens Leonore-Ouvertüre Nr. 3 in C-Dur ließ freilich ein Programm der konventionellen Art erwarten. Und das Beethoven’sche Kompositionsprinzip „Durch Nacht zum Licht“ konnte man als eine Ankündigung lesen, dass es auch für die beiden anderen Werke von Bedeutung sein würde. Das Tonhalle-Orchester Zürich unter der Leitung seines Chefdirigenten Paavo Järvi beendete die Ouvertüre, die den Sieg der Freiheit über die Knechtschaft darstellt, mit einer ohrenbetäubenden Orgie in C-Dur.
Doch es kam anders. Bartóks Violinkonzert Nr. 2 in h-Moll, im Vorfeld des Zweiten Weltkriegs entstanden, ist keine Siegeshymne. Im Gegenteil: es wirkt auch heute noch, 85 Jahre nach seiner Uraufführung, recht sperrig und wenig eingängig. Zudem weist der Solopart, für den Geigenvirtuosen Zoltán Székely geschrieben, etliche spieltechnische Tücken auf. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass sich die heutigen Interpreten nicht gerade um das Werk reißen. Anders liegt der Fall bei Vilde Frang. Ihre Vorliebe für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sie mit Einspielungen von Strawinsky, Britten, Korngold, Nielsen, Sibelius, Korngold und Bartók (Erstes Violinkonzert) beeindruckend dokumentiert.
In der Zürcher Tonhalle geriet die Live-Begegnung mit der 37-jährigen norwegischen Künstlerin zu einem packenden Erlebnis. Obwohl Frang inzwischen auf allen großen Bühnen der Welt auftritt, hat sie ihre Natürlichkeit, Authentizität und Bescheidenheit nicht verloren. Ihr interpretatorischer Zugang zeigte sich gleich im ersten Satz, Allegro non troppo, sehr deutlich. Das Konfliktbeladene, Sperrige und Disparate des Satzes kam bei ihr durchaus zur Geltung. Und doch geht Frang nicht, wie etwa Patricia Kopatchinskaja, in die Extreme. Die Tongebung blieb vorwiegend dem Schönklang verpflichtet, mied das allzu Schrille ebenso wie das ganz Fahle. Klassizistisch kann man diesen Ansatz nennen. In der gefürchteten hochvirtuosen Kadenz brachte die Solistin dann aber doch ihr ganzes emotionales Repertoire zum Klingen. Andere Facetten zeigte Frang im Andante tranquillo. Den lyrisch-kantablen Solopart gestaltete sie wie eine Traumwandlerin und mied alles Demonstrative. Viel Interaktionen zwischen Solo und Orchester waren beim dritten Satz, Allegro molto, gefragt. Järvi ließ das Orchester sehr präzise und secco musizieren, Frang antwortete mit energischem und kraftvollem Spiel.
Im Unterschied zu dem im gleichen Jahr geborenen Jean Sibelius gehören die Symphonien von Carl Nielsen in Kontinentaleuropa nicht zum Kernrepertoire. Dank der Vorliebe Järvis für das nord- und osteuropäische Repertoire stand nun zum Schluss die Symphonie Nr. 5, Op.50 des dänischen Komponisten zur Debatte. Unter dessen sechs Symphonien ist sie in formaler, harmonischer und klanglicher Hinsicht die radikalste. 1920 bis 1922 entstanden, bedeutet sie einen Reflex des Komponisten auf die Schrecken des Ersten Weltkriegs. Die zwei großen Sätze brechen mit den formalen symphonischen Konventionen und stellen vielgliedrige, heterogene Gebilde mit viel Überraschungspotenzial dar. So fehlt beispielsweise im ersten Satz ein griffiges Hauptthema, und der anfänglich romantisch klingende Adagio-Teil nimmt gegen Schluss geradezu militärische Züge an.
Järvi forcierte das Disparate, Schrille, Verstörende und Moderne der Symphonie, schoss dabei aber gelegentlich über das Ziel hinaus. Das Tonhalle-Orchester hatte sichtlich Freude an dieser Deutung und sparte nicht mit einschlägigen Effekten.