Das verbindende Element der Programmgestaltung eines Konzertes gibt mitunter Rätsel auf. Beim Gastspiel Yannick Nézet-Seguins bei den Berliner Philharmoniker scheint es die Bedeutung der Musik über das Werk hinaus zu sein. Neben der Symphonie Nr. 7 von Dmitrij Schostakowitsch, bedeutungsvoll schlicht „Leningrader“ genannt und vermutlich eine der schon in der Entstehung und der Zeit der Ur- und erstmaligen Aufführung(en) politisch aufgeladensten Kompositionen aller Zeiten, steht Clara Schumanns Konzert für Klavier und Orchester auf dem Programm.

Es ist das erste Mal in der Geschichte der Berliner Philharmoniker. 189 Jahre nach seiner Uraufführung findet das Werk aus der Feder der bekannten Pianistin, die einst regelmäßig als Solistin mit den Berliner Philharmonikern auf der Bühne stand, auch den Weg ins Repertoire eines der größten Orchester der Welt. Eine längst überfällige Programmentscheidung. Dreizehn Jahre alt ist Clara Wieck als sie mit der Arbeit an ihrem einzigen großen Orchesterwerk beginnt, drei Jahre später feiert das Werk seine Uraufführung im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung von Felix Mendelssohn-Bartholdy. Fast 200 Jahre später sitzt Beatrice Rana am Piano, um das Klavierkonzert erstmals bei den Berliner Philharmonikern zu spielen.
Zart, leidenschaftlich, gedankenvoll: Die italienische Pianistin beweist, dass das Werk so viel mehr in sich trägt als erste kompositorische Gehversuche einer jungen Musikerin. Dabei verleiht Rana dem Klavierkonzert insbesondere in den lyrischen Momenten, besonders berührend das Zusammenspiel mit Bruno Delepelaire am Solo-Cello, eine ungeahnte Reife. Unwillkürlich fragt man sich als Zuhörer*in, was aus dieser Komponistin hätte werden können, wenn die gesellschaftlichen Anforderungen der Zeit an eine Frau und Robert Schumanns an seine Frau andere gewesen wären. Mit weicher Tonformung und detaillierten Klangfarben ist Ranas Darbietung – präzise begleitet von Dirigenten und Orchester – ein wahres Plädoyer für Schumanns Werk.
Ganz anderen gesellschaftlichen Umständen sah sich hingegen Schostakowitsch gegenüber, als er seine Siebte Symphonie im Jahr 1941 begann. Im Juni des Jahres überfällt das Deutsche Reich die Sowjetunion, ab September beginnt die Blockade Leningrads. Anfang Oktober wird Schostakowitsch mit seiner Familie aus seiner Heimatstadt nach Samara ausgeflogen. Da hat die Arbeit an einer seiner bekanntesten Symphonien längst begonnen. Der Kampf ums Überleben, die Hoffnung auf einen Sieg – sie stehen in der Leningrader im Mittelpunkt und doch bietet sie so viel mehr.
Langsam wandert das Invasionsthema im ersten Satz durch die verschiedenen Instrumentengruppen. Erst fern-süßlich, dann nah-bedrohlich. Nézet-Seguin legt dabei besonderen Wert auf feine Steigerungen ehe das Thema – entnommen aus Hitlers Lieblingsoperette Die lustige Witwe und an die von Stalin verrissene Lady Macbeth von Mzensk erinnernd – in fatalistischen Tutti-Steigerungen widerhallt. Mit preußisch-militärischer Präzision scheint das Orchester voranzuschreiten. Eine Akkuratesse, die Unbehagen auslöst, auch wenn die Höhepunkte nicht immer die gewohnte durchhörbare Transparenz der Philharmoniker bieten. Dafür legt Nézet-Seguin einen besonderen Fokus auf die kurzen Durchatmungsmomente der Symphonie, gestaltet diese sanft und arbeitet die Schönheiten der Melodien heraus.
Mit wechselnden Tempi und vor allem gen Ende ausladender Gestik leitet der franko-kanadische Dirigent durch das Werk. Dennoch wirkt seine Interpretation über weite Strecken zurückgenommen, im Verlauf fast unentschlossen – Pathos, aber dosiert? Schostakowitschs Siebte wird so zu einem Schauspiel aus fraglos grandiosem Einzelkönnen und geballter orchestraler Kompetenz, einem Wechselspiel aus zarter Schönheit und konzentrierter Machtfülle. Es ist die atemberaubende Brillanz der Berliner Philharmoniker, die an diesem Abend im Fokus steht. (K)Ein Sieg: Am Ende wirkt das Finale nicht zuletzt durch den rasch aufbrausenden Applaus des Publikums triumphal. Doch so leicht macht es sich Schostakowitsch sich und den Zuhörer*innen doch eigentlich nicht, beim Meister des doppelten Bodens ist wenig so wie es scheint.