Peter Eötvös' Vertonung des Tschechow-Dramas Tri Sestri (Drei Schwestern) gehört zu den wenigen Bühnenwerken zeitgenössischer Musik, die es ins Repertoire der europäischen Häuser geschafft haben. Nach seiner Uraufführung in Lyon 1998 war es an prominenten Stationen wie Hamburg, Düsseldorf, Berlin und Wien zu sehen. Dass nun auch Intendant Bernd Loebe Tri Sestri aufs Programm der Frankfurter Oper gesetzt hat und mit dem Stück sogar seine 17. Spielzeit am Main eröffnete, ist ein weiteres Indiz für seine Kanonisierung. Es bleibt jedoch auch eine mutige Entscheidung.

Die Oper Frankfurt zeigt Eötvös' Oper in seiner ursprünglichen und vom Komponisten präferierten Besetzung. Die drei Schwestern Olga, Mascha und Irina sowie ihre Schwägerin Natascha werden hier von Countertenören gesungen (und nicht wie in einer vermeintlich besetzungsfreundlicheren Version durch Frauenstimmen ersetzt). Besonders die Schwestern waren dabei auf der Frankfurter Bühne herausragend. Ray Chenez sang Irina in einer elegischen Zartheit, die dem kindlich-naiven Charakter der jüngsten Schwester entspricht. David DQ Lee gab die mittlere Schwester Mascha temperamentvoll und energisch, meisterte auch zwischenzeitliche Pfeifpassagen äußerst souverän. Und Dmitry Egorov als Olga wirkte innerhalb des Geschwistertrios stabilisierend – nicht nur musikalisch in passend herrlich warmem und profundem Stimmton. Auch innerhalb ihrer Rolle tritt die Älteste immer wieder als moralische Instanz auf.

So arbeiteten alle drei Countertenöre schlüssig und stimmlich differenziert die charakteristischen Eigenheiten ihrer Figur heraus. Und doch fügten sie sich als Trio ebenso wunderbar zusammen. Die Rockrollen - wenn man das Begriffspendant zur etablierteren Hosenrolle verwenden möchte - gelangen Chenez, Lee und Egorov ohne jeden gekünstelten Affekt. Vielmehr erscheint das Spiel mit dem biologischen Geschlecht die Situation der drei Schwestern auf eine Abstraktionsebene zu heben. Nicht von russischen Frauen um 1900 ist hier die Rede, sondern vom Unglück des postmodernen Menschen überhaupt.

Ein linearer Handlungsverlauf im konventionellen Sinne findet sich in Eötvös‘ Oper nicht. Tschechows Konversationsstück, das selbst bereits keinen Spannungsbogen besitzt und keiner Hauptfigur folgt, wurde von Eötvös noch weiter dekonstruiert und jedes chronologischen Ablaufs beraubt. In drei Sequenzen wiederholt sich ein ähnliches Geschehen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Die drei Schwestern leben nach dem Tod ihrer Eltern gemeinsam mit der alten Amme Anfisa – köstlicher trockenhumorig, ebenfalls in einer Rockrolle von Alfred Reiter in tiefem Bass gegeben – ihrem Bruder Andrei und dessen Frau Natascha in einer russischen Provinzstadt, in der gerade Militärs lagern. Hier geben sie sich der Hoffnungslosigkeit, gleichzeitig tief sitzenden Angst vor Veränderung, Lethargie und Sehnsucht nach einer besseren Zukunft in Moskau hin.

Doch Tri Sestri wäre nicht so erfolgreich, wenn sich die Dramaturgie in dieser Melancholie erschöpfen würde. Neben der alten Amme bringt auch die herrschsüchtige Natascha immer wieder Komik in die trübe Melancholie der Schwestern. Eric Jurenas feuerte ihre Schimpftiraden als beeindruckendes Konsonantengewitter von der Bühne und unterhielt als ungeliebte Schwägerin mit einem leichten Hang zur Überzeichnung damit bestens. Begleitet wurden Nataschas Auftritte von Kuhglocken aus dem Orchestergraben. Hier setzte ein Kammerensemble unter der Leitung von Dennis Russel Davies immer wieder szenische Akzente und illustrierte einzelne Figuren. Das zweite Orchester, der weitaus größere Teil des Frankfurter Opern- und Museumsorchesters, ist in der Frankfurter Inszenierung leicht erhöht hinter der Bühne und einem halbtransparenten Vorhang platziert. Unter dem Dirigat des Frankfurter Opernkapellmeisters Nikolai Petersen gab es eher atmosphärischen Klang zum Gesamteindruck hinzu. Wie bedeutsam nichtsdestotrotz diese Funktion ist, wird durch das räumliche Arrangement hervorragend hörbar. Im Zuschauerraum mischen sich beide Orchester zu einem durchsichtigen Stereoeffekt. Das Zusammenspiel gelang den beiden Dirigenten reibungslos und das Frankfurter Opern- und Museumsorchester präsentierte sich auch in diesem Repertoirewinkel glänzend.

Die zunächst reduziert und schlicht anmutende Inszenierung von Dorothea Kirschbaum fügt den komplexen Konversationen auf der Bühne noch einige herrlich absurde Elemente hinzu und erweist sich der musikalischen und literarischen Dichte an nichts nachstehend. Durch eine modern eingerichtete Wohnung wirbeln in einem Moment betrunkene Soldaten, während nur wenige Minuten später Mikołaj Trąbka als Amrei einen ergreifenden Monolog singt über seine eigene Bequemlichkeit, über Langeweile und Mittelmaß, das ihn umgibt. Die Außenszenen sind auf einem verlassenen Spielplatz mit Karussell und Schaukel angesiedelt. Hier endet auch die lethargisch-tragische Geschichte der drei Melancholie-Schwestern. Wer ihnen in Frankfurt bis zum Ende gefolgt ist, wird durch die todtraurigen, die absurden, die ironischen und komischen Existenzformen des menschlichen Daseins transzendiert sein.

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