Bachs Johannes-Passion bewegt – und wie! Schon zu ihrer Entstehung 1724, als Bach sein erstes Jahr als Thomaskantor damit krönend komplettierte, sorgte das Werk für reichlich Gesprächsstoff. Neue Musik im Geschmack großer „Passionsmeditationen“ auf Basis lebensnaherer, reißerischer Schilderungen der Kreuzigungsgeschichte Jesu waren überaus beliebt und erreichten – in herausgehobener Weise – das pietistische Leipzig. Dazu Pfarrer Christian Gerber 1732, dessen Zitat sich wohl nicht konkret auf Bach in Leipzig, sondern eine Passion in Dresden beziehen könnte: „[...] Bisher aber hat man gar angefangen die Passions-Historia, die sonst so fein de simplici et plano, schlecht und andächtig abgesungen wurde, mit vielerley Instrumenten auf das künstlichste zu musiciren, […] Als nun diese theatralische Music angieng, so geriethen alle diese Personen in die grösste Verwunderung, sahen einander an und sagten: Was soll daraus werden?“

Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704 mit Václav Luks © Petra Hajská
Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704 mit Václav Luks
© Petra Hajská

Herkömmliches, politisch Genehmes, nicht dieser Bach stand im kommunistischen Tschechien des letzten Jahrhunderts auf dem Programm, darunter eben insgesamt keinerlei Musik auf historischen Instrumenten. Überall sonst jedoch etablierten sich mehr und mehr solcher Ensembles, die vor allem auch Bachs Passion neue Impulse gaben. „Was soll hier daraus werden?“, fragte sich Václav Luks – also generell bewegt von den herrschenden persönlichen Umständen mit dem Stück – und verfolgte Traum und Anspruch, das „Neue“ ins Land zu holen. 2005 war es soweit, Collegium 1704 und Collegium Vocale 1704 wurden in dieser Form geboren, um sie, wie die Matthäus-Passion und h-Moll-Messe, erstmals im Land von eigenen heimischen Gruppen auf authentische(re)m Instrumentarium aufzuführen. Seither bringt diese Idee Luks und seine Musiker in die Säle Europas, für das Finale der Passionstour 2022 diesmal zum Debüt ins Konzerthaus Dortmund.

Dort unterwarf der alles auf dem Podest mitregende Dirigent die Leidensabhandlung Jesu – abgesehen vom kontrastierend äußerst langsamen Feststellen des Todes Christi am Kreuz – einer erfreulichen Maxime der tempoflinken und dynamischen Vitalität, die verbunden mit der dicht-durchgezogenen attacca-Struktur sowie dem Gerber'schen Höreindruck gemäßen theatralischen und prägnanten Auftritt von Chor und Orchester die flirrend-anteilnehmende Atmosphäre von Verrat, Schauprozess und Abschiednahme schuf. Genauer gesagt vollzog das siebzehnköpfige Collegium Vocale 1704 in seiner luziden, super verständlichen Stimmkunst bewegliche, gleichsam phrasierungstechnisch unterlegte Rollenwechsel von fließenden, hingebungsvollen Chorälen oder trotz weichen Wohlklangs beißenderen Turbae der erst hilflos zuschauenden, sündhaften, dann reflektierenderen, in Zuneigung zum Sterbenden herzlich mitleidigen Menge der Jüden zu den Einwürfen der unnachgiebig hochschraubenden Kriegsknechte. Beim abschließenden „Ruhet wohl“ und „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ verströmte es in gediegenerer Art, aber gleichzeitig nimmer müder Kompaktheit und vortrefflichem Überzeugungsansporn die Essenz von frommer Hoffnung, Versöhnung und Erlösung.

Bei diesen letzten beiden Nummern ergänzte Sopransolistin Sophie Junker die Reihe des Chores, die von ihren zwei Arien nicht ausgelastet war. In jenen hatte sie ihre typisch artikulatorische Wonne von anspringender Strahlfarbig- und Deutlichkeit sowie expressiv betroffener Affektisierung unter Beweis gestellt. Hervorragend diktionsgenau und betont ging auch der in erster Arie noch etwas erkältet klingende Mezzo von Henriette Gödde zu Werke, die später in bester Atemtechnik mehr tiefere Schatten beim leichnamigen Lebwohl einbrachte. Besonders entzückt hat mich diesmal das bravuröse Schritthalten Christian Immlers im rapiden „Eilt, ihr angefochtnen Seelen“ und seine trotz notierter Wortbreite militärisch-körnige, lebendige Verdikt-Autorität eines machtgenießenden Pilatus. Sehr kurzfristig sprang Roman Hoza als Jesus ein, dem man eine gewisse Schüchternheit anmerkte, der die Enden gern ein wenig verschluckte, jedoch eine schöne Mittellage besaß, die ihm im „Mein teurer Heiland“ zupass kam. Eine Passion steht und fällt allerdings mit dem Evangelisten und als solcher bot Sebastian Kohlhepp, der auch die Tenorarien („Ach, mein Sinn“) mit immenser Dramatik und („Erwäge“) trotz Vibratos mit luftiger, naturalistisch lieblicher Leichtigkeit sang, ein vokales Gesamtpaket, das der Aufführung zum großartigen Gelingen verhalf. In dunklerer, kehligerer Färbung berichtete er mit lyrisch eindringlicher Kraft und erzählerischer Stärke, meisterte ein glühend schnelles Geißeln und verneigte sich quasi voll inniglich andächtiger Anmut.

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