Wenn Klaus Florian Vogt sich mit seinem Wohnwagen der Stadt nähert, ist der Schwanenritter nicht weit: Der lyrischste Heldentenor unter Wagners Sonne kehrt für zwei Aufführungen des Lohengrin an die Deutsche Oper Berlin zurück, was sowieso großes romantisches Glück ist, in diesem Fall aber besonders, denn Kaspar Holtens Inszenierung von 2012 ist ganz auf Vogts verstörend auratische Erscheinung zugeschnitten.
Der dänische Regisseur Kasper Holten, bis 2017 Direktor des Royal Opera House London, hat die Figur des Schützers von Brabant derart einleuchtend ins Zwielicht gerückt, dass die Besetzung der Titelrolle nicht nur eine sängerische Geschmacksfrage ist. Lohengrin erscheint als Blender in einer durch und durch verheerten Kriegswelt, in der selbst dem Heerrufer des Königs das Blut durch den Stirnverband suppt. Im Moment seines Auftretens sieht man den geheimnisvollen Fremdling Schwanenflügel aufsetzen, deren leuchtendes Weiß die verwundeten Brabanter betört. Friedrich von Telramund bezwingt er im Gottesgericht mit nebelwabernden Taschenspielertricks, ehe er am Schluss des ersten Aktes die völlig neben sich stehende Elsa heimlich anherrscht, gefälligst zu spuren. Telramunds nächtlicher Überfall im dritten Akt schlägt fehl, weil delr bedauerliche Intrigant sich im Schlafzimmer auf die abgesetzten Flügel stürzt und so zur leichten Beute für des Gralsritters Schwert wird.
Zu dieser finsteren Sicht auf die große romantische Oper, der ja in der Tat der Pessimismus aus allen Poren tropft, passt es, dass der junge Herzog von Beginn an als Toter präsent ist – in Form eines Kreideumrisses der Spurensicherung, wie Fernsehkrimis sie sich vorstellen. Konsequent kehrt am Ende nicht der erlöste Gottfried wieder, sondern Elsa legt eine Knabenleiche auf eine Art Opferaltar, der sich zuvor unter dem unberührt gebliebenen Ehebett verbarg. Eine nach wie vor erschütternde, aber plausible Deutung, die jedoch auf Klaus Florian Vogts Ausnahme-Tenor angewiesen scheint: Mag Vogt auch in den letzten Jahren sein Repertoire um einige Wagnerrollen erweitert haben und seine Stimme darüber „heldischer“ geworden sein, bleibt sein Lohengrin eine exzeptionelle Erfahrung. Er ist mittlerweile in der Tiefe ungeheuer voluminös, aber erreicht mit glockenklarer Knabenstimme faszinierend schwerelos jede Höhe und überstrahlt scheinbar mühelos jedes Chor-Fortissimo. Würde Max Weber noch leben, sollte er seine Untersuchungen über Charismatische Herrschaft um ein Lohengrin-Kapitel erweitern.
In Vogts innig ersehnter Gralserzählung, ein Wunder an Differenzierung und Schönheit zugleich, ist endlich auch das Orchester der Deutschen Oper unter Axel Kober auf dem Niveau, das man von ihm erwarten darf. Im Vorspiel zum ersten Akt klangen die Flageolets der achtfach geteilten Geigen doch eher hausbacken als himmlisch. Da spielte das Orchester gemäßigt, man könnte auch sagen lau: piano, aber nicht ätherisch; fortissimo, aber nicht heldisch; deutlich, aber nicht durchhörbar. Das dumpf brütende Vorspiel zum zweiten Akt mit seiner schmerzzerrissenen Cello-Linie überzeugte mehr; das glanzvoll schmetternde Vorspiel zum dritten Akt ist sowieso ein dankbares Spektakel für ein solides Orchester. Insgesamt eine pragmatische, die Sänger unterstützende Interpretation, in der das Orchester aber doch für eine Wagneroper zu wenig eigene Kontur entwickelte. Dass die Bühnenmusik aus dem Palast zu Beginn des zweiten Akts offenbar vom Band kam, war natürlich nicht entscheidend und aus ökonomischen Gründen nachvollziehbar; schön war es trotzdem nicht.
Auch dem Chor hörte man an, dass für eine Wiederaufnahme weniger geprobt wird als für eine Premiere und man wohl mit der zweiten Aufführung besser bedient ist. Man hat diesen hervorragenden Chor jedenfalls schon erheblich präziser gehört als in den piano-Passagen des ersten Akts, wo die Schlusskonsonanten doch eine erhebliche Streuung aufwiesen. Später steigerte sich der Chor merklich, auch wenn er in manchen Passagen eine solch dröhnende Lautstärke aufwies, dass es nur Opernfreunden ganz alter Schule eine Freude sein konnte.
Sängerisch war es großteils kein Fest der Textverständlichkeit; ohne Übertitel wäre der Wagnerneuling verloren. Eine rühmenswerte Ausnahme bildete (neben Klaus Florian Vogts glasklarer Diktion) der für Albert Pesendorfer eingesprungene Günther Groissböck als Heinrich der Vogler, sonor und deutlich, eine in jeder Hinsicht famose Leistung. Markant und plastisch auch Bastiaan Everink in der kleinen Rolle des Heerrufers. Simon Neal klang als Telramund dagegen etwas verstolpert, aber überzeugte durch Kraft und Schmerz und nicht zuletzt durch eine angemessen elende, stellenweise komische Bühnenpräsenz.
Auf ungleich höherem Niveau gilt Ähnliches für Anna Smirnova als Ortrud: Man verstand kein Wort, aber sie sang mit umwerfendem Furor, eine wahre Bühnenbestie. Gleißend hell, fast schrill, dennoch ungeheuer fest in der Höhe überstrahlte sie den Chor und war das perfekte Gegenstück zu Vogts (stimmlich, nicht moralisch) reinem Lohengrin. So beherrschte sie die Bühne nach (böser) Lust und (schlechter) Laune, sei es als heidnische Ehehexe mit Haaren auf den Zähnen oder als klebrig süße Jungfrauenflüsterin. Furchteinflößend und schreiend komisch zugleich stellte sie die arme Elsa (Manuela Uhl mit leicht metallischem, keinesfalls mädchenhaftem Timbre und problematisch-unverständlicher Textdeklamation) auch sängerisch in den Schatten.
Eine Aufführung mit einigen Höhepunkten, deren größter Klaus Florian Vogt ist und bleibt.