Komponierende Adlige von Rang und Namen waren in Zeiten der Renaissance und des Barock keine so große Rarität, wie heute deren offiziellen Werke erscheinen, wobei sich diese in einigen Fällen Zweifeln hinsichtlich der Urheberschaft ausgesetzt sehen müssen. Schließlich beschäftigten die Von und Zus auch Hofkapellmeister, die öffentlicher oder eher hinter den Kulissen mitwirken sollten, wollte man sich mit seinem Hobby keine Blöße geben. Keine und darin doch eine Ausnahme bildet Philippe II. de Bourbon, Duc d'Orléans, ein ausgesprochen umtriebiger Kulturafficionado, der während der Unmündigkeit Ludwigs XV. französischer Regent war und „unter“ Molière und Racine die Theaterbühne unsicher machte. Mithilfe seines Freundes, Lehrers und (Vize-)Musikchefs Charles-Hubert Gervais entstand so die Tragédie-Oper La Jérusalem délivrée, ou la suite d'Armide, die 1704 erstmals in Fontainebleau aufgeführt wurde. Leonardo García Alarcón premierte sie zur Eröffnung des heimischen Musikfests seiner Ensembles, dem Chœur de Chambre de Namur und der Cappella Mediterranea, seit letztmalig festgehaltenem Datum 1712.

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Marie Lys und Leonardo García Alarcón mit der Cappella Mediterranea
© Bastien Lansbergen

Nicht nur als Nachfolger Ludwigs XIV., sondern auch mit dieser Oper folgte Philippe großen Fußstapfen und schuf selbst zauberhaft Atypsiches. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass sich der Atheist ausgerechnet Torquato Tassos Christentumsepos um die Belagerung der heiligen Stadt im Kampf mit den Muslimen als Grundlage aussuchte, welches als Zeitzeuge zunächst der in Mantua erlauchte Anstellung innehabende de Wert, dann ihn ersetzender Monteverdi mit nachhaltig revolutionärem Il Combattimento di Tancredi e Clorinda vertont hatten. Doch dürfte das Sich-Messen im beliebten Stoff mit den überragenden Lully und Campra trotz gewaltiger Fallhöhe sowie das im Französichen Eingehen auf das originär Italienische ein ausschlaggebendes Momentum gewesen sein. Schließlich liebte Philippe d'Orléans den um sich greifenden goût italien, in dem er das Werk verfasste. Und das so von griffiger Sprache und insgesamt instrumentaler Flüssigkeit lebt, wie ich noch keine französische Barockoper bisher vernommen habe, gilt es freilich, Desmarests (nicht seine frühere Circé) und Schürmanns Stückabkömmlinge erst noch zu entdecken.

Dagegen konnte die inhaltliche Aufbereitung vom Adels-Kollegen und Librettisten Hilaire-Bernard Requeleyne nur nebensächlich sein. In ihr kämpfen Herminie und Tancrède sowie Tassos hinzuarrangierte Armide und Ritterrüstling Renaud aus Ariostos – ebenfalls zuvor und danach zahl- und ruhmreich vertonten – Orlando um ihr Leben. Natürlich sowohl der poetischen Basis als auch der Tragédie entsprechend und damaliger Realität europäischer Heiratspolitik entflüchtend nicht vornehmlich aufgrund freiheits- und gebietswahrender oder vermeintlich identitätsstiftender Kriege, sondern wegen der unglücklich schicksalshaften Wirren der Liebe und Ehre, so dass nur die üblichen Motive der Tötung aus Rache und Selbstmord-Depression jeweilig situativen Frieden im Schmachtenschlacht-Herzen verschaffen können.

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Véronique Gens und Marie Lys
© Bastien Lansbergen

Um dem Duo Philippe/Gervais in seiner Meisterhaftigkeit gerecht zu werden, behandelte Garcia Alarcón, der vom Cembalo aus gewohnt temperamentvoll leitete und seine hochversierte Musikassistentin Marie van Rijn am Instrument doppelte, diese Sentimentalitäten und zuvor erwähnten Silistikbesonderheiten mit vollendeter Aufmerksamkeit. So stachen die theatralischen Kontraste deutlich heraus, ohne die coconhafte Eleganz zu opfern. Cappella Mediterraneas Konzertmeisterin Amandine Solano war dafür eine sicher führende und beherzte Akteurin in den interludierenden, Stimmungen, Récits und Airs verbindenden Elementen, zu denen neben selbstverständlichen Tutti in unterschiedlichen Kombinationen Geigen, hohe und tiefe Bratschen, die überwiegend eingesetzten Blockflöten (Sopran, Alt, Voiceflute, Bass), außerdem Traversi/Piccoli, Oboen, Fagotte und die essentiell-starke wie allgemein vorzüglich engagiert-abgeklärte Bassgruppe aus Erzlaute, Theorbe, Gamben, Celli und Kontrabass kamen. Damit trug der Dirigent der weiteren herzoglichen Vorliebe für italienische Violin- und Sonatenkunst passendste Rechnung. Zur Besetzung zählten des Weiteren Bass- und große Militärtrommel, Donnerblech, Triangel und Pauken, zum finalen fünften Akt dann (der Prolog wurde übrigens in erstellter Fassung in bewährter Zusammenarbeit mit dem Versailler Barockmusikzentrum ausgelassen) die glänzende, glorreiche Trompete.

Fabien Hyon und Gwendoline Blondeel © Bastien Lansbergen
Fabien Hyon und Gwendoline Blondeel
© Bastien Lansbergen

Generell hatte die Klanglichkeit eine aufeinander Rücksicht nehmende, faszinierende Integrationskraft, bei der alles am Schnürchen lief und – wie man es sich immer wünscht – die Lust an der Vorstellung einer neuzeitlichen Weltpremiere gegenwärtig war. Mehr als bezahlt machte sich dafür, dass sich alle Künstler nach intensiven Tagen Proben- und CD-Aufnahmearbeit in Topform befanden. In diese allseitige Exzellenz betteten sich neben dem erfahrensten Chor für das Repertoire, der auf eingehenden wie berührenden Stimmfußfundamenten für die dienend-willfährigen Zwischenrufe stand, auch die für das Fach renommierten Solisten – inmitten des Orchesters platziert – regelrecht ein. Anders als sonst doch verbreitet, überwog nämlich kein mitunter etwas unflätig leieriger, im finalen Forte exaltierter, vibratoübersteigerter Ausdruck. Vielmehr blitzte gemäß der familiär-instrumentalen und sogar timbremäßig voll treffenden Interpretationsübereinstimmung eine Medaillenqualität royal-sittlicher, resolut-emotionaler Contenance hervor.

Begonnen mit Marie Lys als Herminie, deren flexible Sopranreichweite aufs Wiederholte beeindruckte, Véronique Gens als ungekrönte Königin, die Armide in tragender Klarheit gesanglich eine bipolare Grandezza „andichtete“, über Victor Sicard als alle stimmlichen Werte phänomenal ausschöpfender Tancrède, der die Stimme seiner getöteten Clorinde (Gwendoline Blondeel ganz ausgewogen) hörte; den tuff-talkig weichen, vibrant-süßlichen, ebenso entschlossen aufgewühlten Tenor Cyrille Dubois' als Renaud, bis zum durchaus kräftigen Krieger Vaffrin (Fabien Hyon) sowie „gezügelten“, unmissverständlichen David Witczak als Dämonenbeschwörer Ismen beziehungsweise Stammesfürst-Anführer und sich wie Andraste (Nicholas Scott lebendig artikuliert, zudem draufgängerischerer Alcaste) Armide anbietenden Tissapherne, gereichte diese Auswahl zur hellsten Freude.

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