Schwere Kost hat Kirill Petrenko seinen Berliner Philharmonikern zum Januarausklang aufgetragen. Ein Konzert voller Arnold Schönberg. Zunächst die Kammersymphonie Nr. 1, dann das Oratoriumsfragment Die Jakobsleiter. Der einstige Publikumsschreck, dessen Musikaufführungen im Wien der Jahrhundertwende schon mal in handgreiflichen Gemengelagen endeten, ist 150 Jahre nach seiner Geburt im Symphonierepertoire gleichzeitig angekommen und irgendwie auch nicht. Beliebter Auftakt unter anderem mit der häufig gespielten Verklärten Nacht, aber als Hauptwerkkomponist noch immer rar gesät. So wirkt die Programmierung selbst in der experimentierfreudigen Bundeshauptstadt fast ein bisschen mutig. An diesem Freitagabend ist die Philharmonie dann auch nicht bis auf den allerletzten Platz gefüllt, so sind im weiten Runde einzelne Lücken zu erkennen.
Los geht es kammermusikalisch und großsymphonisch zugleich. Schönbergs Kammersinfonie Nr. 1 war einst Teil des berühmt-berüchtigten „Watschenkonzerts“, das nach Tumulten zwischen Verfechtern und Verächtern der Zweiten Wiener Schule abgebrochen werden musste. Später galt sie als Ausgangspunkt der „Neuen Musik“. Chefdirigent Petrenko betont gemeinsam mit den 15 Musikern (Genderstern nicht notwendig) vor ihm sogleich das heitere Durcheinander, schafft mit sanften Gesten dabei aber eine stets schimmernde Transparenz. So werden die formalen Zusammenhänge betont, die Komposition mit ihrer Idee des totalen Zusammenhangs sämtlicher Themen dem Publikum ein wenig leichter verständlich gemacht. Es ist ein Miteinander und Gegeneinander von Altem und Neuem und doch klingt Schönberg an diesem Abend eher wie woher er kommt, denn wohin er geht. Mit so viel Spielfreude, wie das philharmonische Kammerorchester sie an den Tag legt, klingt das Werk plötzlich nicht mehr verkopft, sondern wirkt mit unerwarteter, spätromantischer Wärme erfüllt.
Nach der Pause geht es nicht nur mit kompositorischer, sondern auch inhaltlich schwerer Kost weiter. Die Jakobsleiter begleitete Schönberg fast ein Leben lang, inklusive selbstgeschriebenen Libretto. Begonnen in den Wirren des Ersten Weltkriegs vor der eigenen Einberufung in das Militär, arbeitete der Komponist bis 1922 an dem Werk, das er trotz mehrerer Wiederaufnahmen nie vollendete und ein Fragment blieb. Erst nach seinem Tod wurde im Auftrag seiner Witwe durch Winfried Zillig eine Partitur erstellt, die ein Jahrzehnt nach Schönbergs Tod seine Uraufführung fand.

Menschliches Streben und Scheitern vor biblischem Kontext stehen im Mittelpunkt des Oratoriums. Gewaltige Anforderungen stellt es in seiner expressiven Komplexität an Orchester und Sänger*innen, Chor wie Solisten, die bei den Berliner Philharmonikern durchweg selbst für Kurzauftritte meisterlich besetzt sind. Doch erstmal klingt es nicht so, wie es die grandiose Ganzheit erwarten ließe. Trotz mehr als 200 Mitwirkenden macht Kirill Petrenko nach der Pause dort weiter, wo er zuvor aufgehört hat. Großsymphonisch und doch kammermusikalisch. Fein abgestimmt, sanft und doch durchdringend schwelend klingt der Beginn der Jakobsleiter ehe der Rundfunkchor Berlin mit expressiver dynamischer Bandbreite und purer Textdramatik in das Geschehen eingreift.
Wolfgang Koch als prophetendurchdringlicher und kontrastreicher Gabriel hat die größte Rolle des Abends. Mit Daniel Behle gestaltungskräftig als Ein Berufener, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke als Ein Aufrührerischer, Johannes Martin Kränzle mit feinem Humor und einer Dosis Zweifel gestaltend als Ein Ringender, Gyula Orendt samtweich als Der Auserwählte, Stephan Rügamer fein ereifernd als Der Mönch und Nicola Beller Carbone zerbrechlich als Der Sterbende ist der Abend bis in die kleinsten Rollen prominent besetzt. Den größten Jubel des Abends aber erhalten am Ende die Nachwuchssopranistinnen. Glanzklar und sternenhell mit zahlreichen Schattierungen gestaltet Liv Redpath als Die Seele die Koloraturen ihrer rein lautmalerischen Rolle. Während des Finales wird sie von der ebenso starken und gut harmonierenden Jasmin Delfs ergänzt.
Währenddessen dürfen die Berliner Philharmoniker ihr ganzes Können unter Beweis stellen, mit- und gegeneinander. Geschickt lässt Petrenko das Orchester immer wieder in den Hintergrund treten, betont die sanften und stillen Stellen. Weiß aber auch zu übersteigern, ohne die Spannung jemals bersten zu lassen. Dabei betont der Dirigent all jene Brüche des Werkes, die Schönbergs eigene religiösen Bruchstellen widerzuspiegeln scheinen. Als Sohn assimilierter Juden geboren, bekennt er sich – zum Schock seiner Familie und trotz des eigenen Hangs zum Mystizismus – als junger Erwachsener zum Protestantismus, ehe er 1933 wieder in eine jüdische Glaubensgemeinschaft eintritt.
Der größte Bruch scheint dabei das Ende des Oratoriumsfragments. Unter Petrenko klingt das Zwischenspiel, das eigentlich den Übergang zum zweiten Teil hätte werden sollen, wie eine große Frage. Wandernd-mäandernd halt es durch die philharmonischen Weinberge, das Orchester auf der Bühne unterstützt von nicht weniger als vier Fernorchestern hoch unter dem Dach positioniert. Dabei heraus sticht das berührend-melancholische Cellosolo von Ludwig Quandt, ehe Redpath und Delfs erneut als Seele erklingen und die Musik ätherisch verklingt. Ein bisschen wünscht man sich zu hören, was im zweiten Teil gefolgt wäre, hätte Schönberg Die Jakobsleiter je vollendet.