Die 40. Aufführung von Christine Mielitz‘ unattraktiver Regiearbeit aus 2006 ist nicht unbedingt ein feiernswertes Jubiläum an der Wiener Staatsoper, doch erhielt die szenische Ödnis ihrer Otello-Inszenierung unerwartet Leben und Glanz durch Rollendebüts von großartigen Sänger-Schauspielern. Violett beleuchtet, vor Video-Wolken und noch öfter hinter Metallgittern, auf einem matratzenlosen Bett mit Scheinwerfer-Himmel – ein Sängerpaar vom Format wie das Ehepaar Roberto Alagna und Aleksandra Kurzak kann sich Shakespeares tödliche Ehekrise aus anno 1604 bestimmt einfacher gestalten, als es vor dieser Kulisse und zwischen ungelenken Chorauftritten möglich ist.

Andererseits ist man als Zuhörer froh, dass sich die beiden dieser Nervenprobe stellen und man Verdis prächtiges Alterswerk in frischer Besetzung zu hören bekommt. Alle großen Partien waren an diesem Abend Rollendebüts an der Staatsoper und gelangen überzeugend. Da ist zunächst Roberto Alagna als Otello, der bei günstig stehendem Vokalstern das Publikum in seinen Bann ziehen kann wie wenige andere. Natürlich forciert er hin und wieder – wie sonst durchschnitte man auch den anfänglichen Orchester-Orkan, den Graeme Jenkins eher zwischen Nibelheim und Walhall denn vor Zypern verortete – brauchte aber nicht lange, um der Reinheit und Durchschlagskraft seiner Spitzentöne auch Geschmeidigkeit in der mittleren Lage folgen zu lassen. Ermüdungserscheinungen zeigte er in dieser anstrengenden Partie nur kurz am Anfang des dritten Akts. Fast wirkte es so, als hätte ihn die Pause davor in seinem guten Lauf gebremst. Doch war auch das schnell überwunden, zumal sich Alagna ohnehin nie schont. Er brennt für die Bühne und gibt alles; zumindest habe ich das immer so erlebt, unabhängig davon, ob ihm ein Abend einmal besonders oder vielleicht weniger glückt.

Mit Bühnenpräsenz und -instinkt bewegte er sich in dieser Inszenierung mit großer Sicherheit und gestaltete Otello als das, was er ist: ein maskuliner Held, der tief fällt, weil ein durchtriebener Tunichtgut punktgenau seine Achillesferse trifft. Alagnas Darstellung profitierte auch von der Maske, die ihm nur eine dezente Urlaubsbräune, dafür aber schicke Zöpfchen verpasste. In Verbindung mit dem obligaten Mantel- und Stiefel-Outfit stellte sich da ein wenig Game of Thrones-Flair in der atmosphärisch unterkühlten Szenerie ein.

In Dalibor Jenis hatte dieser Otello einen absolut ebenbürtigen Jago im Nacken. Man ist zwar überrascht, die Partie des berühmten Intriganten von einem eher hellen Bariton zu hören, das passt aber perfekt und verstärkt ihren zweideutigen Charakter und gibt der Bösartigkeit eine erschreckende Kühle. Besonders beeindruckend war, dass Jenis für den Umgang mit seinen arglosen Opfern jeweils einen ganz unterschiedlichen Tonfall fand – eine Glanzleistung.

Aleksandra Kurzak erfüllte hingegen in den ersten drei Akten gesanglich nicht, was ihre mädchenhafte Erscheinung im makellos weißen Flatterkleid versprach. Ihre Stimme klang generell recht sehnig und angespannt, das Legato hatte wenig Fülle, und auch die Intonation ließ mitunter zu wünschen übrig. Zum Ausgleich gelang ihr der vierte Akt überraschenderweise bestens; speziell das „Lied von der Weide“ und das „Ave Maria“ mit zartem, berührendem Pianissimo hätte man sich nicht ergreifender wünschen können. Insofern darf man zuversichtlich sein, dass sie sich im Laufe der Vorstellungen mit dem Rest der Partie auch noch anfreunden wird.

Den schön timbrierten Tenor von Hausdebütant Antonio Poli würde ich gern öfter hören, kann er die an diesem Abend gebotene Leistung als Cassio doch verlässlich abrufen. Auch die weiteren Partien waren anforderungsgerecht besetzt und trugen das Ihrige zum Gelingen des Abends bei.

Dieser stand, wie schon erwähnt, unter der Leitung von Graeme Jenkins, welcher den Sängern ein sensibler verlässlicher Begleiter war. Die Beobachtung, wonach er diesen Otello anfangs ein wenig wagnerianisch krachen ließ, ist keineswegs negativ zu verstehen: Zum einen sprechen wir von reifem Verdi post Wagner, zum anderen kennt Jenkins seine Sänger. Hat man nun einmal die metallische Wucht von Roberto Alagnas Instrument zur Verfügung, darf man sie auch nutzen. Musikalisch riss der Spannungsfaden nie ab, außer wenn es im Holz, und hier wiederum meist in den Klarinetten, bei hohen Schlusstönen oft knackig-schrill wurde. Lob gebührt dafür den Streichern, die an diesem Abend von den Kontrabässen aufwärts Mustergültiges von sich gaben.

Es war ein mitreißender Abend, dessen Höhepunkt naturgemäß die Schlussszene war. Wer von der Verzweiflung und dem Herzblut nicht gerührt war, mit der Alagna seinem ersten Wiener Otello ein Ende setzte, hat etwas verpasst.

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