Auf Steinstufen sitzen wir im halbrunden Bogen des alten römischen Theater in Orange und starren auf die monumentale römische Wand vor uns. Die Bühnendekoration besteht aus Splittern eines zerbrochenen Spiegels, die in jeder anderen Umgebung riesig wären, doch hier sehen sie winzig aus. Gekrönt wird sie vom Markuslöwen, der verrät, dass die Oper, die wir gleich sehen werden, Verdis Otello ist. Die Bühne füllt sich mit dem silbergrau gekleideten Chor. Die Nacht bricht herein.
Myung Whun Chung tritt von der Seite auf. Er steigt auf das Podium und versetzt uns in atemloses Staunen, als er ein Gewitter von epischen Ausmaß entfesselt. Zugegeben, es war nicht ganz so episch die was reale Gewitter gestern, weswegen diese Vorstellung verschoben werden musste – das hat es den Besuchern zufolge, mit denen wir gesprochen haben, noch nie gegeben – aber Chungs orchestrale Version kam dem schon ziemlich nahe.
Die Orchesterleistung überhaupt, sowohl von Chung als auch dem Orchestre Philharmonique de Radio France, war einfach sensationell, mit einer seltenen Kombination aus Präzision und großer Energie. Jedes Register des Orchesters war hervorragend: einzelne Phrasen der Holzbläser kamen mit Eleganz und völliger Klarheit durch, der Streicherklang war nuancenreich und in einer perfekten Einheit, das Blech dynamisch und das Schlagwerk gewaltig und donnernd.
Die Akustik dieses Veranstaltungsortes muss ihr übriges dazu beigetragen haben: der alte Zauber der römischen, in den Berg hineingebauten Theaterkonstruktion ist so groß, dass einzelne Instrumente in einer solchen Art und Weise bis ins Detail hörbar waren, wie man es sonst bei Veranstaltungen unter freiem Himmel (und in der Tat in den meisten Häusern) nicht zu hören bekommt. Die Akustik war allerdings dem Orchester zuträglicher als den Sängern, die alle in gewissem Maße kämpfen mussten, um gehört zu werden.
Robert Alagna in der Titelrolle war der einzige Sänger, der es schaffte, nicht nur konstant gehört zu werden, sondern auch, seine stimmliche Präsenz auch über das Orchester zu legen. Wie ein Magnet zog er alle Augen und Ohren auf sich, als er zwischen Autorität in seinem eröffnenden „Esultate“, Zärtlichkeit in „Già nella notte densa“, seinem Liebesduett mit Desdemona, und bald wahnsinniger Brutalität in der Wiederholung des Wortes „Il fazzoletto“ (das Taschentuch) und der Mordszene schwankte. Seine Stimme war klar und kraftvoll, obwohl sogar ihm aufgrund dieser Anstrengung ein paar Töne abbrachen. Inva Mulas Desdemona war lieblich gesungen und erreichte das nötige Maß an Kraft – mit kaum einem hörbaren Konsonanten allerdings auf Kosten der Diktion.