Wenn Radu Lupu das Podium betritt, hat man den Eindruck, dass sich Claude Debussy höchstpersönlich an den Flügel setzt. Ähnlich verschlossen wie dieser wirkt der rumänische Pianist, der sich ostentativ dem Virtuosentum verweigert und jeden Anflug von Glamour im Keim erstickt. Lupu grübelt mehr am Klavier, als dass er in die Tasten donnert. Und doch ist er kein Intellektueller, der Strukturen zum Klingen bringt. Schon vor 40 Jahren ließ er verlauten, nur die Komponisten zu spielen, die zu ihm passten, beziehungsweise die, die ihn am meisten mögen. Diese Worte werfen noch heute Licht auf seine Konzerte. So auch auf den Abend, den er im Pierre-Boulez-Saal gab.
Zu Beginn spielte er Joseph Haydns Andante con variazioni. Diese späte Komposition von 1793 ist keine Variationenfolge über ein Thema, sondern eine, in der zwei Themen und ihre Veränderungen miteinander abwechseln: ein barock-verziertes graziöses Thema in f-Moll und ein im galanten Stil komponiertes, ein wenig schalkhaftes in F-Dur. Doch das Stück begnügt sich nicht mit ihrer Gegenüberstellung. Haydn lässt das Moll-Thema über das Dur-Thema obsiegen: Auch wenn in den letzten Takten das Moll doch ins Dur umschlägt, ist vom zweiten Thema nichts mehr übrig geblieben, weil es von der Tastengewalt des ersten schlicht vernichtet worden ist. Das ist ein „Delirium der Verzweiflung", wie Alfred Brendel befand. Davon war bei Lupu aber nicht viel zu hören. So fein er die Nuancen im Thema herauszuarbeiten verstand und so tief er in die Töne hineinhorchte - hier stand ihm sein Prinzip, Virtuoses in jedem Falle zu vermeiden, etwas im Wege.
Auch seine Darbietung von Schumanns Fantasie Op.17 litt in einigen Momenten unter dem grundsätzlich introvertierten Blickwinkel, den Lupu auf die Komposition nahm. Schumann komponierte den ersten Satz auf sein Ende hin und lässt ihn erst in den letzten Takten die ihm zugrundeliegende Tonart C-Dur im Tonikadreiklang erreichen. Dieses Suchen nach Halt und das endliche Finden gestaltete Lupu sehr überzeugend - etwa dadurch, dass er, so als wolle er die Musik sich immer wieder ihrer selbst vergewissern lassen, das Tempo weit zurücknahm und die Frage stellte, wohin sie sich verirrt habe. Schumann nannte seine Fantasie „das wohl Passionierteste“, was er je gemacht habe und wollte sie als Klage um Clara verstanden haben. Bei Lupu wurde der erste Satz aber mehr zu einer Erinnerung an das Sehnen und Klagen. Er machte aus ihm eine zurückblickende Geschichte, die dem Hörer etwas aus alten Zeiten erzählte.
Im zweiten Satz waren technische Makel unüberhörbar. Nicht, dass falsche Töne nicht im Sinne Liszts als gerne gehörte Gäste auch dann und wann willkommen sind, aber nicht, wenn das Konzept der gespielten Komposition darunter leidet. Schumann komponierte den mittleren Satz wie ein vorweggenommenes Finale, dessen feste, überschaubare Form an keiner Stelle in Frage gestellt ist und in der Coda triumphale Züge annimmt. Darum verlangt dieser Satz in der Darbietung Zuversicht und Mut zum Glanz, die den anderen beiden Sätzen nicht gegeben ist.
Der letzte Satz gehört wieder zu der Musik, die zu Lupu passt - und die ihn so mag, wie er sie spielt. Und das, weil er in ihm die Suche nach einem vergessenen Thema unternahm, das in seinen Konturen anfangs vage durchschimmert, dann deutlicher wird und nur ein einziges Mal feste Gestalt in C-Dur annimmt. Doch während der erste Satz in der schließlich erreichten Tonart schließt, endet der dritte, und mit ihm die ganze Fantasie, damit, dass Schumann das endlich Gefundene in den letzten Takten doch wieder wegschenkt, ja fortwirft.
Am Ende des ersten Teils wurde es sehr klar, dass Haydns Andante mit Schumanns Fantasie gut zu verbinden ist. In beiden Werken wird, wenn auch auf ganz unterschiedliche Weise, am Ende nichts nur zum Schein gerundet.
Nach der Pause spielte Lupu Tschaikowskys Jahreszeiten, die von solchen kompositorischen Problemen nun gar nichts wissen wollen. Dankbar dürfen wir dem Pianisten, der bisher russische Komponisten nicht im Repertoire hatte, dafür sein, sich für die hierzulande ziemlich unbekannten 12 charakteristischen Bilder einzusetzen. Komponiert wurden sie 1876 als Musikbeilagen für die Monatszeitschrift Nouvelliste. Lupu musizierte hier frei von aller Gedankenarbeit und gab sich einem ganz entspannten Spiel hin. Ganz in seinem Element war er, als er im Frühlings-„Lied der Lerche“ die Melodie zunächst aufsteigen und am Ende sich zu Boden sinken lässt, so wie die Lerche ihren Singflug beendet. Und im April-Stück gelang es ihm, hörbar zu machen, wie in der aufsteigenden Melodie die Schneedecke durchbricht.
Zu einem Höhepunkt der Aufführung wurde die den Juni charakterisierende g-Moll-Barkarole, die nicht wie ihre Vorbilder im wiegenden 6/8 oder 12/8-Takt, sondern im 4/4-Takt steht. Hier berührte Lupus so ungekünstelter und ganz wunderbar schlichter Ton ganz besonders, der dem gesamten Zyklus sehr angemessen ist. Dass es Lupu, ganz im Sinne Tschaikowskys, nicht darum ging, eine bunte Sammlung hübscher Stücke nur nacheinander zu präsentieren, sondern einen Bogen nachzuzeichnen, war etwa darin zu vernehmen, dass er das Juli-Stück, das „Lied des Schnitters“ , so hell leuchten ließ wie die Sonne zu dieser Zeit strahlt. Entsprechend dazu ließ er sie in der für den Oktober komponierten schlichten Elegie am Ende im vierfachen Piano untergehen.
Für den freundlichen Beifall bedankte sich Lupu mit Schuberts Impromptu As-Dur aus D 935 als Zugabe.