Am 30. März 1282, beim Läuten der Vesperglocken, begann in Palermo der Aufstand der Sizilianer gegen die Fremdherrschaft von Charles d’Anjou, der zur Vertreibung der Franzosen von der Insel führte. Dieses blutige historische Ereignis hat Giuseppe Verdi, zusammen mit dem Librettisten Eugène Scribe, in seiner Oper Les vêspres siciliennes thematisiert. Der französische Titel rührt daher, dass Verdi, der in Italien bereits viele Erfolge gefeiert hatte, auch in Paris, dem Mekka der Opernwelt des 19. Jahrhunderts, Fuß fassen wollte. Der berühmte Librettist und die formale Anlehnung an die Grand opéra Meyerbeers sollten für den Erfolg garantieren. Nach der Uraufführung der französischen Fassung im Jahr 1855 folgte die italienische zuerst in der durch die Zensurbehörde verunstalteten Version als Giovanna di Guzman. Erst 1861, nach dem Sieg Garibaldis und der Vertreibung der Bourbonen aus Neapel und Sizilien, bekam die Oper den heute gebräuchlichen italienischen Titel I vespri siciliani.

Jonas Jud (Bethune), Omer Kobiljak (Tebaldo), Stanislav Vorobyov (Roberto) und Brent Michael Smith © Herwig Prammer
Jonas Jud (Bethune), Omer Kobiljak (Tebaldo), Stanislav Vorobyov (Roberto) und Brent Michael Smith
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Verdi wollte von Anfang an eine nationalistische Oper schreiben und knüpfte dabei an seine früheren Risorgimento-Opern wie La battaglia di Legnano oder Nabucco an: Kampf eines unterdrückten Volks gegen die Fremdherrschaft und Sieg der Guten gegen die Bösen. Die Guten, das sind in I vespri der aus dem Exil zurückgekehrte Arzt Giovanni da Procida, die sizilianische Adelige Elena, deren Bruder von den Franzosen umgebracht wurde, und der Revoluzzer Arrigo, der in Elena verliebt ist. Anführer der Bösen ist Guido di Monforte, der von den Franzosen eingesetzte Gouverneur von Sizilien.

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Maria Agresta (Elena)
© Herwig Prammer

Bei Calixto Bieito, der in der Neuinszenierung am Opernhaus Zürich Regie führt, ist alles anders. Dem Nationalismus begegnet Bieito mit tiefem Misstrauen. Die Protagonisten und der Chor sind vom Kostümbildner Ingo Krügler ganz allgemein als Ober- und Unterschicht gekennzeichnet. Und auch die Bühne von Aida Leonor Guardia, die an ein mehrstöckiges Containerschiff erinnert, lässt keine nationalen Assoziationen zu.

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Sergey Romanovsky (Arrigo) und Maria Agresta (Elena)
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Wenn Procida im zweiten Akt seinen berühmten Auftrittsgesang „O patria!“ anstimmt, sehen wir beängstigende Bilder von Kriegssituationen aus dem 20. Jahrhundert (Video: Adria Reixach). Zweitens zeigt Bieito die Gewaltthematik des Stücks ausschließlich als Gewalt von Männern gegen Frauen. Die krassesten der einschlägigen Szenen sind die Vergewaltigung dreier sizilianischer Bräute durch die Besatzungs-Soldaten in einem Container und die anschließende Erhängung der getöteten Frauen an einem Strick.

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Alexander Vinogradov (Procida)
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Drittens hebelt Bieito den Kontrast von Gut und Böse aus, indem er beide Seiten als die Bösen kennzeichnet. Am deutlichsten erlebt man dies in der Schlussszene. Dabei prügeln die Sizilianer Monforte derart brutal zu Tode und schreien ihr „Vendetta!“ derart schrill ins Publikum, dass man die Sympathie zu ihnen zu verlieren droht. Und Procida, der ideologische Anführer des Befreiungskampfs, gebärdet sich als gekrönter Dominator einer erniedrigten Gruppe von halbnackten Frauen. Man ahnt, dass die Gewalt gegen Frauen auch unter der politischen Herrschaft der Sizilianer im gleichen Stil weitergehen wird.

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Quinn Kelsey (Guido de Monforte) und Sergey Romanovsky (Arrigo)
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Positiv ist zu erwähnen, dass Regie und Ausstattung die Handlung immer wieder in einprägsamen, aber auch verstörenden Bildern zusammenfassen. Aber vieles ist derart gegen den Strich gebürstet, dass man die Handlung nicht versteht, wenn man nicht vorher einmal eine konventionelle Inszenierung gesehen hat. Da die Oper selten aufgeführt wird, ist dies wohl bei den wenigsten Premierenbesuchern der Fall. Was man in Zürich erlebt, ist nicht eine Verdi-Oper, sondern eine Umdeutung derselben durch ein fantasiebegabtes Regieteam.

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Alexander Vinogradov (Procida) und Omer Kobiljak (Tebaldo)
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Unter den vier Hauptfiguren finden sich zwei hervorragende und zwei etwas weniger ansprechende Sängerpersönlichkeiten. Die Elena von Maria Agresta, die einzige weibliche Hauptrolle von I vespri, rettet das Stück gewissermaßen. Ihren eher dunkel timbrierten Sopran und ihren gewaltigen Stimmambitus verbindet sie mit Charakterstärke und Unerschrockenheit. Sie ist es, die den ersten Attentatsversuch gegen Monforte unternimmt. Er scheitert ausgerechnet daran, dass ihr Geliebter Arrigo dies verhindert. Dieser hat nämlich herausgefunden, dass er der (uneheliche) Sohn des Tyrannen ist, was ihn in einen unlösbaren Konflikt bringt.

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Quinn Kelsey (Guido de Monforte)
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Dass Sergey Romanovsky keine Identifikationsfigur abgibt, liegt teilweise an seinem etwas gepresst wirkenden Tenor, aber auch an der Regie, die ihn als devoten Liebhaber und chancenlosen Revoluzzer darstellt. Eine einprägsame Gestalt mit sonorem Bariton ist der Monforte von Quinn Kelsey, dem das Lavieren zwischen Macht- und Gefühlsmenschen ausgezeichnet gelingt. Stimmlich etwas monochromer erscheint Alexander Vinogradov als Giovanni da Procida, dessen Wandel vom edlen Patrioten zum (von der Regie geforderten) Bösewicht nicht restlos gelingt.

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Quinn Kelsey (Guido de Monforte) und Maria Agresta (Elena)
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Als musikalische Klammer und Erkennungszeichen von I vespri siciliani dient ein Motiv, das gleich zu Beginn der Ouvertüre zu hören ist und sich durch die ganze Oper zieht: Es sind zwei auftaktige Zweiunddreißigstel, gefolgt von einer volltaktigen Achtelnote. Passt beispielsweise auf das Wort „Traditor“. Rhythmisch ist das Motiv schwierig zu realisieren, besonders wenn das Orchester, die Protagonisten und der Chor gleichzeitig daran beteiligt sind. Der Dirigent Ivan Repušić hat hörbar Mühe, die Philharmonia Zürich, Chor und Zusatzchor der Oper Zürich (oft im Hintergrund) sowie die Gesangssolisten (im Vordergrund) zu einer schlagkräftigen Einheit zusammenzuschweißen. Auch im Übrigen erreicht der Dirigent die dramatische Spannung mehr durch Forcierung der Lautstärke als durch rhythmische Zuspitzung.  

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