Es gibt Ensembles und Dirigenten, die für die Aufführungsgeschichte eines Komponisten nicht wegzudenken sind. Beim von Philippe Herreweghe und studentischen Mitstreitern erdachten Collegium Vocale Gent ist dies der in sehr kleiner Besetzung schlank auf das musikalische Schild emporgehobene Johann Sebastian Bach. Für das fünfzigjährige Jubiläum des Chores 2020 sollte es mit den großen Passionen auf eine ausgiebige Europa-Tournee gehen, die die rhetorische Klasse im Dienste des Meisters andenkend unprätentios feiert. Daraus wurde wegen des Coronalockdowns bekanntlich nichts. Betroffen davon war auch ein erneutes Gastspiel in der Kölner Philharmonie, die in dieser Saison selbst ihr 35-jähriges Bestehen begeht und zu dessen Gratulation Herreweghe noch daran erinnerte, dass er dort zum 40. seines Ensembles die beste Videoaufführung der Matthäus-Passion realisieren konnte.

Philippe Herreweghe
© Michiel Hendryckx

Jetzt wurde dieses nachgeholte Konzert zwar nicht videotechnisch festgehalten, doch erlebte ein endlich wieder nahezu ausverkauftes Haus in Erwartung Herreweghes Erscheinen mit Bach und seinen Musikern mit der analogen Neuauflage das aus meiner Perspektive mindestens genauso gelungene Einlösen des Versprechens höchster Ansprüche. In gewohnt bestechender Klangreinheit, nuancierter Betonungsgabe und unverkennbar polierter Homogenität ließen die typisch zwölfköpfigen Chöre inklusive Solisten, Achter-Ripienisten, die beiden Protagonistenrollen und je siebzehn Mitglieder zählenden Orchester des CVG die Dramatik und Kraft der Passion Raum greifen; und zwar in dem Maße, dass die bildliche Theatralik – ebenfalls bekanntermaßen – nicht durch extremere Turba-Tempi der beständigen, bei Herreweghe überragend gewürdigten Textverständlichkeit und szenegestimmten, affektvollen Deklamation geopfert wurde. Sondern in dem Ausdruck, der durch perfektionslüsternde Vertrautheit und Geborgenheit der Stimmen in Anbetracht werklicher Durchdringung, prächtiger Berichtspflicht und Menschlichmachung von Gläubigkeit, Verrat, gemeinschaftlicher Verwunderung und tröstlichem Beileid ein flüssiges Gesamtbild mit Gänsehautmomenten ergab.

Deshalb völlig zurecht holten sich die natürlich in sauber-eloquenten, leicht abgesetzten, allerdings nicht durch Versfermaten gestörten Chorälen, bündigen Gesprächseinwürfen und himmlisch beweinenden Chören agierenden Vokalgruppen und das in akzentuierter Tonsprache luzide zur Tat schreitende Orchester bombastischen Applaus ab. Ihn heimsten zu Beginn der Einzelwürdigung der Solisten die traditionell aus den Chören exkludierten Hauptfiguren, Evangelist und Jesus, ein. Reinoud Van Mechelen, der mit seiner exzellenten und wirkungsbewusst eingesetzten Hautcontre-Befähigung prädestiniert für dieses Spezialfach ist, füllte die Partie mit lautstarker, aufgebrachter, erzählerischer Strahlkraft, insgesamt mit der aus Kehle und von Zunge sprechender Richtigkeit eines gut in der Hand liegenden Schreibwerkzeugs als Mittel spannenden Festhaltens der Geschichte aus. Florian Boesch zeigte ein umfassendes und durch exquisites Lagengeschick, ariosolinierte Wärme und einfühlungshafte Tiefe ehrhaften Eindruck erweckendes Bild von Christus: kämpferisch-entschlossen, in menschlicher Emotionalität und ritueller Glaubensgröße sowie überzeugender Leidens- und Standfestigkeit die fleischgewordene wohlige Totendecke einer nicht einsam sein müssenden, sündigen, sterbenden Existenz zu sein.

In solch eigener erlösender Dankbarkeit ging Joseph bei der Balsamierung zu Werke, die Peter Kooij ehrerweisend demütig-fromm und schlicht unter engerem Kontakt zum das Podest verlassenden Herreweghe besang, während er zuvor ohne Bedürfnis eines Dirigats ausgekommen war und einen leichtbrüstigeren Petrus verkörpert hatte. Abermals vom Pult entfernend genötigt sah sich Herreweghe merkwürdigerweise im Gegensatz zum ebenso routinierten Philipp Kaven als Pilatus beim Bass-Pendant Judas, für den Tobias Berndt den vorgetragenen „Honig“ seines Timbres in seiner Arie „Gerne will ich mich bequemen“ oder adäquate Entrüstung im „Gebt mir meinen Jesum wieder“ mit virtuosem Konzertmeisterin II-Solo Anne Katharina Schreibers einbrachte. Das dritte Mal nahm Herreweghe näheren Einfluss auf dynamisch-phrasiert hervortuendes Orchester und den oben rosigen, in Mittellage kunststoffhaftiger klingenden James Hall in „Können Tränen meiner Wangen“. Altus-Kollege Tim Mead steuerte eine Sternstunde expressiv-geschmeidigen, vollmundig-lichten, angefasst-wehklagenden, fantastisch betont-artikulierten Seelenlebens nach der anderen bei, mündend im Höhepunkt eines flott-ästhetischen, überwältigenden „Erbarme dich“ mit Christine Buschs grazil-formidablem Konzertmeisterin I-Concertato. Eine ebenso sanfte Hand zum Geleit reichte Dorothee Mields, deren weich-organische, lebhafte Bekümmerung die sopranistische Entsprechung darbot. Ohne wirkliches Dirigat konnte Guy Cutting butterzart und kontrastierend aufmuckend für Staunen sorgen, wohingegen Sam Boden angenehm beseelt sowie Grace Davidson in puristischer Entzückung und hervorragender Phrasierung das Herz auffüllten.

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