Die Frau ohne Schatten ist musikalisch als auch hinsichtlich ihrer Handlung derart komplex und vielseitig wie kein zweites Werk des Duos Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal. Kontroverse Regiekonzepte thematisieren gerne vermeintlich misogyne Aspekte dieses „Schmerzenskindes“  – wie die Autoren ihr Werk bezeichneten – des frühen 21. Jahrhunderts, so auch die Regisseurin und Feministin Katie Mitchell in Amsterdam.

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Aušrinė Stundytė (Die Färberin) und Daniela Köhler (Die Kaiserin)
© Dutch National Opera | Ruth Walz

In ihrem Regiekonzept verwandelt sie die Märchenoper in einen, selbst als solchen bezeichneten, feministischen Sci-Fi-Thriller, der zwar das Märchenhafte in manchem bewahrt, aber statt geisterhaften Vorgängen auch Gewalt, Folter und Verbrechen zeigt und das vielschichtige Symbol des Schattens in gynäkologischen Untersuchungen und von Zwang geprägten Befruchtungsmethoden konkretisiert.

In dieser filmartig erzählten Opernregie kontrastiert die klinische Welt des Kaisers, in der jeder Liebesakt zu einem biologischen, medizinisch begleiteten wird, mit dem bescheidenen Haushalt des Färberpaares, der weihnachtlich geschmückt ist, es handelt sich ja um eine Geschichte von Empfängnis und Ankunft. Unbefleckt bleibt und erlösend wirkt in diesem Krimi jedoch nichts. Wie im Werk ursprünglich angelegt, ist es der Geisterkönig Keikobad, Vater der Kaiserin, der mit seinem Ultimatum den Handel um den Schatten, hier klar reduziert auf Schwangerschaft, noch eher auf die befruchtete Eizelle, in Gang bringt.

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Daniela Köhler (Die Kaiserin) und Aušrinė Stundytė (Die Färberin)
© Dutch National Opera | Ruth Walz

Doch Keikobads Welt ist bei Mitchell keine übermächtige, sondern vielmehr eine des mafiösen Untergrundes, die vor keinen Gewalttaten zurückschreckt. Als Menschen mit bedrohlichen Tierköpfen treten seine Gehilfen und auch er selbst in die Parallelwelten der Paare ein, erschießen zunächst die medizinischen Angestellten des Kaisers, um danach einen Jüngling als Geisel zu nehmen und diesen unter vorgehaltener Waffe dazu zu zwingen, die Färberin zu befruchten. Diese befruchtete Eizelle soll anschließend der Kaiserin eingesetzt, also der Schatten errungen werden.

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Daniela Köhler (Die Kaiserin) und Michaela Schuster (Die Amme)
© Dutch National Opera | Ruth Walz

Doch in einem Hollywood-reifen Showdown zeigt sich, dass die Empfängnis interruptiert und sich die Färberin im letzten Moment gegen den Handel entscheidet. Sowohl sie als auch ihr Mann werden in Keikobads Hauptquartier in Zellen gesperrt und erst wieder freigelassen, als die Kaiserin sich ihrem Vater stellt und durch im Widerstand gegen sein verbrecherisches Vorgehen gezeigten Verzicht und sein gerechtes Urteil doch von den angedrohten Folgen des Ultimatums verschont bleibt.

Im Schlussbild dürfen sich beide Frauen über in ihnen heranwachsende Kinder freuen, zu denen es nicht ohne die magisch-gynäkologische Mithilfe Keikobads kam. Und da sie sich gegen das Geschehen gestellt hatten, zudem Zeugen zu vieler Verbrechen geworden sind, werden die Amme sowie Baraks Brüder in dramatischem Kontrast zum strahlenden Finale kaltblütig ermordet. Es ist eine gewaltvolle, mit hoher szenischer Spannung erzählte Frau ohne Schatten, in deren Mittelpunkt Katie Mitchell das Verhältnis zwischen Vater und Tochter stellt, gleichzeitig aber auch das Verhältnis von Mann und Frau im Allgemeinen, besonders hinsichtlich des Kinderbekommens, für dessen Gelingen oder Scheitern allein die Frauen verantwortlich zu sein scheinen. Dieser dezidiert feministische Blick gerät jedoch nicht zu aufdringlich in den Vordergrund, niederschwellig fügt er sich in das zwar brutale, doch auch ästhetische und vor allem durch beeindruckenden Symbolik der Tierköpfe märchenhaft gehaltene Gesamtbild.

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Josef Wagner (Der Färber)
© Dutch National Opera | Ruth Walz

Am Pult des Nederlands Philharmonisch Orkest verwandelte Marc Albrecht das packende, schnelle Bühnengeschehen in einen ebenso musikalisch aufwühlenden Musikthriller. Wie kaum ein anderer Dirigent hat Albrecht die Spannungsbögen und die kontrastierende Dramatik von Richard Strauss' Komposition verinnerlicht und wusste diese darzustellen. Trotz stürmisch-rasanter Tempi erstrahlte bei ihm auch stets das Zarte, Leichte, gar in hellen Farbtönen kammermusikalisch sinnlich Flimmernde der komplexen Partitur; im nächsten Moment stach Albrecht jedoch umso mehr zu und riss mit schmetternden Dissonanzen im prägnanten Fortissimo das vor Hochspannung auf der Stuhlkante sitzende Publikum emotional mit.

Aušrinė Stundytė (Die Färberin) © Dutch National Opera | Ruth Walz
Aušrinė Stundytė (Die Färberin)
© Dutch National Opera | Ruth Walz

Dank des stimmlich äußerst starken, als auch szenisch glaubhaft agierenden Cast geriet die Vorstellung zu einem Musiktheater allererster Güte: Allen voran Daniela Köhler in der Titelpartie der Kaiserin, welcher in dieser Aufführung mit strahlend-hellem, sicheren Sopran und einer so fesselnd wie berührender Deklamation über sich hinauswuchs. Elena Pankratova, mit Partitur von der Seite für die angeschlagene, dennoch szenisch agierende Aušrinė Stundytė singend, gestaltete mit exotisch expressiven Klangfarben und charaktervoll ausgeprägter Tiefe eine äußerst musikalische Referenzdarstellung der Färberin.

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Daniela Köhler (Die Kaiserin) und AJ Glueckert (Der Kaiser)
© Dutch National Opera | Ruth Walz

Keine Sängerin hat die Amme so häufig auf den weltweiten Opernbühnen verkörpert und derart perfektioniert wie Michaela Schuster, welche jeder Phrase ihre eigene Mimik aufsetzt und ihrer markerschütternd fesselnder Mezzo-Sopranstimme zunehmend etwas mehr Exzentrizität beigibt. AJ Glueckert glänzte als Kaiser mit runder, tragender Heldentenorstimme. Er wusste sich immer wieder demutsvoll zurückzunehmen, um seine entrückte Figur so mit einem angemessenen Hauch von Apathie zu zeichnen. Josef Wagner gestaltete mit herber, charakterstarker Baritonstimme und feinfühliger Diktion einen mustergültigen, die Rolle vollständig mit Empathie, Kraft und der Unsicherheit seines missverstanden Charakters, ausfüllenden Färber Barak.

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Michaela Schuster (Die Amme) und Aušrinė Stundytė (Die Färberin)
© Dutch National Opera | Ruth Walz

Es mag dahingestellt sein, ob eine übermäßige Betonung der (vermeintlichen) Frauenfeindlichkeit im Libretto und diese zu starke Reduktion des Geschehens um den Schatten auf die Fruchtbarkeit und Schwangerschaft dem Stück gerecht werden – schließlich handelt es vorrangig von einem umfassenden Prozess der Selbstwerdung und Findung eines moralischen Gewissens sämtlicher Figuren –, doch insgesamt entsteht eine rasant erzählte, packende und durchaus ungewöhnliche Frau ohne Schatten.

Mitchell gelingt es, der Erzählung eine neue Gestalt zu verleihen, ohne sich zu sehr vom Libretto zu entfernen oder das Märchenhafte gänzlich zu verlieren. Es ist ein gewagter, aber durchaus gelungener Versuch, den komplexen, in manchem rätselhaften Stoff dieser „letzten romantischen Oper“ auf innovative, höchst spannungsgeladene Art und Weise zu erzählen.


Phillip Richters Hotelkosten in Amsterdam wurden von der Dutch National Opera bezahlt.

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