Nach einer wenig emotionalen Norma und einem kalt servierten Don Carlo wird einem bei Tschaikowskys selten gespieltem Einakter Iolanta endlich wieder warm ums Herz an der Wiener Staatsoper. Diese Neuproduktion bietet anspruchsvolle Unterhaltung mit großen Gefühlen und großen Stimmen.
Die Inszenierung von Hausdebütanten Evgeny Titov ist ein Lehrbeispiel dafür, wie man eine scheinbar simple Handlung modern und interessant gestaltet: Er hat Iolanta nicht im Sinne eines alternativen Konzepts bearbeitet, sondern die vorhandenen Deutungsebenen herausgearbeitet. Derer gibt es nämlich wie in allen Märchen genug, schließlich hat man hat es mit einer Variante der Dornröschen-Geschichte zu tun: Iolanta ist eine von der Außenwelt abgeschirmte Schönheit, deren Erlösung mit dem Auftauchen eines edlen Ritters beginnt. Konkret basiert das Libretto von Tschaikowskys Bruder Modest auf dem Schauspiel König Renés Tochter, womit die 1428 geborene Yolande d’Anjou (auch: de Bar) gemeint ist, auch wenn sie sich in der fiktiven Geschichte des Dänen Henrik Hertz wohl nicht wiedererkannt hätte.

Iolanta ist nämlich blind, weiß aber nichts von ihrem Anderssein. Streng abgeschirmt lebt sie in einem paradiesischen Garten, dessen Betreten bei Todesstrafe verboten ist, und in dem das Hofpersonal den königlich-väterlichen Befehl befolgt, sie hinsichtlich ihrer Blindheit unaufgeklärt zu lassen. Doch es kommt, wie es kommen muss, denn zwei edle Ritter dringen vor: Der Burgunder Robert schwärmt für Mathilde und ist gekommen, um von René die Auflösung der Verlobung mit Iolanta zu erbitten, will aber angesichts der unheimlichen Situation sicherheitshalber Verstärkung holen. Sein Begleiter Vaudémont verliebt sich jedoch schockartig in Iolanta und verschafft ihr die verbotene Erkenntnis. Das versetzt natürlich René in tödlichen Zorn, doch Iolantas Heilung ändert alles, sodass man schließlich Gottes Lob im Chor singt.
Dieses Wunder geschieht durch Iolantas Willen, zu sehen, und mithilfe des Arztes Ibn-Hakia, dessen Behandlung bis dahin hauptsächlich in der Verabreichung von Beruhigungsmitteln bestand. Allerdings fallen in dieser Inszenierung sowohl Iolanta als auch das Publikum beim Anblick der neuen Realität aus allen Wolken: Der Bühnenprospekt, der bis dahin ein windschiefes, sanierungsbedürftiges Schlossambiente vermittelte, fällt zu Boden und gibt den Blick auf eine Kriegsszenerie frei. Dazu liegt im Vordergrund ein toter Stier, auf dem die muskelbepackte Mathilde sitzt. Wer dabei an die mythologische Europa denkt, wird ebenso wenig falsch liegen wie jemand, der in diesem Schlussbild und in der Figurenkonstellation den Ukrainekrieg angedeutet sieht, zumal die Ehe der historischen Yolande den Charakter eines Friedensabkommens hatte.
Man kann sich natürlich fragen, was daran so toll sein soll, denn im Prinzip handelt es sich um eine konventionelle Inszenierung, die mit einem fast kitschigen Tableau schöner Frauen auf einem grünen Hügel mit Rosenbüschen beginnt, und eine recht lineare Geschichte erzählt. Die Antwort liegt einerseits in viel Humor, andererseits in der sehr subtilen Vorbereitung der Vertreibung aus dem Paradies. Nichts geschieht ohne Grund, auch wenn man das zunächst nicht durchschaut, sondern nur ahnt, etwa beim groben Umgang der männlichen Sänger untereinander, oder beim zunächst scheinbar zusammenhanglosen Auftauchen zweier Muskelprotze mit geöltem Oberkörper.
Aber anders als die Faxen, die man in manch anderen Regiearbeiten zu sehen bekommt, wird hier Spannung aufgebaut, die sich in dem fulminanten Schluss entlädt. Zudem wird bei Titov ganz ohne plakative Belehrungen klar, warum Iolanta den Zeitgeist trifft. Man kann das Stück in das populäre Coming of Age Genre einordnen; zwischen Scham, Kränkung, Würde und Empowerment bis hin zur Macht positiver Gedanken werden auch viele Themen behandelt, die das Publikum von heute interessieren.
Von dieser Regiearbeit profitiert sogar der Klang, denn die Sängerinnen und Sänger sind oft günstig in Rampennähe platziert, oder dürfen ihre Stimmen vom erwähnten Hügel in der Bühnenmitte schallen lassen. Nicht, dass Sonya Yoncheva in der Titelpartie derlei Tricks nötig hätte, denn sie kann darstellerisch und sängerisch aus dem Vollen schöpfen und gibt alles. Sie gefällt mit guter Höhe, grundiert von samtiger Tiefe, und überzeugt in der Rolle der Blinden, die sehen will, um ihre eben erst gewonnene Liebe zu retten. Und wenn sie fragt, ob man die Augen nur zum Weinen hat, möchte man am liebsten selbst weinen.
Als René lässt ihr bulgarischer Kollege Ivo Stanchev väterlich-königliche Bass-Strenge hören; dennoch stahl ihm Simonas Strazdas fast die Show, denn das Mitglied des Opernstudios klang in der kleinen Rolle des Dieners Bertrand wie ein zukünftiger Bass-König. Als Ibn-Hakim überzeugte Attila Mokus mit gewohnter Sicherheit. Mehr als angenehm überrascht war man, wie großartig der Bariton Boris Pinkhasovich und der Tenor Dmytro Popov ihre schwierigen Aufgaben als Robert und Vaudémont erfüllten. Beide haben sehr effektvolle Arien zu singen, die in der Höhe keine Schwächen dulden – insbesondere Popov zauberte ein perfektes Legato in der Kopfstimme für den Schluss der seinen und erwies sich im Duett mit Yoncheva als adäquater Begleiter. In den Nebenrollen gefielen prominente Namen wie etwa Monika Bohinec und Maria Nazarova. Musikalischer Anführer war Tugan Sokhiev, der zusammen mit dem tadellos aufspielenden Orchester dafür sorgte, dass sich noch lange nach der Aufführung der berühmte Ohrwurm-Effekt einstellte.