Es gibt im dritten Satz eine Stelle, an der sich die Klarinette ziemlich vorwitzig herauswagt, wobei sie obendrein noch einen falschen Ton erwischt. Flöten und Oboen kommentieren spielerisch die Phrase, was die Harfe mit einem energischen Arpeggio noch bekräftigt. Unversehens fühlt man sich bei diesen Klängen auf den Jahrmarkt in St. Petersburg mit der Gliederpuppe Petruschka versetzt, nur dass diese Musik nicht von Strawinsky stammt, sondern es sich um die Neunte Symphonie von Gustav Mahler handelt – Musik die Mahler in den Tiroler Alpen zwischen 1909 und 1910 komponierte. Aber wie nahe ist der Klang dieses Mahler'schen Spätwerks doch dem Frühwerk Igor Strawinskys, das 1911 uraufgeführt wurde, etwa ein Jahr nach Mahlers Tod! So sehr holte Vladimir Jurowski in seiner Interpretation mit dem London Philharmonic Orchestra Mahlers letzte vollendete Komposition in die Klangwelt der (klassischen) Moderne. Revolutionär in der Klangsprache, aber auch in der Form, geht die Neunte weit über alles hinaus, was Mahler in seinem symphonischen Schaffen bisher formuliert hatte. In Baden-Baden war dies in einem vom Publikum begeistert aufgenommenen Konzert jetzt zu erleben.

Vladimir Jurowski © Andrea Kremper
Vladimir Jurowski
© Andrea Kremper

Von Mahlers Werken ist die Neunte nicht gerade häufig auf den Konzertprogrammen zu finden, obwohl sie nicht die große Besetzung etwa der Zweiten oder Dritten Symphonie erfordert, die wie auch die übrigen „Wunderhornsymphonien” wesentlich häufiger zu hören sind. Die Neunte bedeutet (noch mehr als die übrigen späten) für das Publikum eine große Herausforderung, widerspricht sie doch in Vielem den traditionellen Hörgewohnheiten, die dem Begriff „Symphonie” entgegengebracht werden.

Nicht allein, dass die Satzfolge ungewohnt ist: zwischen den langsamen Ecksätzen stehen zwei schnelle Sätze, beide bis ins Groteske zugespitzt; auch die innere Gestalt der Sätze fordert enorme Konzentration, denn in allen scheint der Zusammenhang mehr oder weniger chaotisch, weil Mahler sich vom hergebrachten Prinzip des Aufbaus eines symphonischen Satzes weitgehend gelöst hat. 

Stattdessen lebt das symphonische Geschehen vorrangig von der Montage widerstreitender musikalischer Ausdrucks- und Empfindungsvokabeln. Mahler selbst beschrieb dies in einem Brief an den Uraufführungs-Dirigenten Bruno Walter so: „Da ist etwas gesagt, was ich seit längster Zeit auf den Lippen habe”. Vor dem biografischen Hintergrund Mahlers zur Zeit der Komposition (plötzlicher Tod der fünfjährigen Tochter, Diagnose seines schweren Herzleidens, die schwere Ehekrise mit Alma und obendrein noch antisemitische Anfeindungen in Wien) wird der stellenweise aggressiv-trotzige, aber vorrangig resignativ-traurige Gehalt dieser Musik verständlich, wie ihn der Dirigent Willem Mengelberg beschrieb: „Mahlers Seele singt ihren Abschied”. Das ist nicht hergeholt – Mahler schrieb selbst in die Partitur: „Leb wohl” und bezog dies auf den abfallenden Ganztonschritt, der alle Sätze dieser Sinfonie wie ein leitendes Motiv durchzieht.

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Vladimir Jurowski dirigiert das London Philharmonic Orchestra
© Andrea Kremper

Es handelt sich um ausdrücklich stark expressive Musik, und ein Orchester steht vor der Herausforderung, die zahllosen Nuancen des Ausdrucks in Klang umzusetzen, was diesem Spitzenorchester aus London perfekt gelang. Phänomenal, welche Ausdruckspalette es in allen Instrumentengruppen an diesem Abend ausbreitete, welch beeindruckende Klangpräsenz die Musikerinnen und Musiker vor allem auch an den zahllosen Solostellen entfalteten. Vladimir Jurowski hielt die disparaten Teile grandios zusammen, schuf enorme Transparenz und dirigierte mit starkem Körpereinsatz, bis sein wallendes Haar zu Berge stand.

Diese höchste Konzentration übertrug sich wunderbar auf das Publikum. Am Schluss der Symphonie, wenn sich adagissimo und im dreifachen Piano die melodischen Partikel des vierten Satzes nur noch unter den Violinen, den Bratschen und den Violoncelli verteilen und im berührend zarten Schlussakkord sich „ersterbend” die Musik ins Nichts verabschiedet – da hielt das Publikum für einen langen Moment buchstäblich den Atem an. 

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