Der Inhalt ist alles andere als jugendfrei: Ein Schriftsteller, genannt „Ich“, wird wegen „Mangels an Mitgefühl“ dazu verurteilt, aus dem Irrenhaus einen Insassen nach eigener Wahl bei sich zu beherbergen. Seine Wahl fällt auf den „Gottesnarren“ Wowa. Nachdem seine erste Frau gestorben ist, lebt der Schriftsteller mit seiner zweiten Frau zusammen, die gleichzeitig die Geliebte von Marcel Proust ist. In des Schriftstellers Haus benimmt sich der Idiot wie der Elefant im Porzellanladen, zerstört das Mobiliar, schmiert Kot an die Tapeten und uriniert in den Kühlschrank. Schließlich vergewaltigt und schwängert er die Ehefrau, die das Kind abtreiben lässt. Aus Wut geht Wowa mit dem Ehemann eine homosexuelle Beziehung ein. Als die Frau den Idioten vor die Wahl stellt, „Er oder ich“, ermordet der Idiot sie mit einer Gartenschere. Der Schriftsteller wird daraufhin ins Irrenhaus eingeliefert.

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Susanne Elmark (Frau) und Bo Skovhus (Ich)
© Frol Podlesnyi

Alfred Schnittkes Oper Leben mit einem Idioten entstand in Hamburg und wurde 1992 in Amsterdam in der russischen Originalsprache uraufgeführt. Der russisch-deutsche Komponist, 1934 in der Sowjetrepublik der Wolgadeutschen geboren, war 1990 nach Deutschland emigriert. Das Libretto der Oper stammt vom russischen Schriftsteller Viktor Jerofejew und basiert auf dessen gleichnamiger Erzählung aus dem Jahr 1980. Jerofejews Libretto und Schnittkes Musik lassen keinen Zweifel daran, dass das Stück in der Sowjetunion spielt, die kurz vor der Uraufführung zusammengebrochen war. In dieser Lesart ist der Idiot – Wowa ist der Kosename von Wladimir – eine Personifizierung von Wladimir Iljitsch Lenin. Die Botschaft: Das Sowjetsystem streckt seine Fühler auch in die intimsten Zweierbeziehungen aus, vergiftet und zerstört sie. Bei der Amsterdamer Uraufführung steckte Wowa in einer Lenin-Maske.

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Matthew Newlin (Idiot) und Campbell Caspary (Idiot Double)
© Frol Podlesnyi

In Zürich ist alles ganz anders. Für die Neuinszenierung des Stücks hat die Intendanz des Opernhauses den russischen Regisseur Kirill Serebrennikov beauftragt. Dieser ist am Haus kein Unbekannter, musste er doch 2018 bei der Neuproduktion von Mozarts Così fan tutte als Fernregisseur arbeiten, da er in Russland unter fadenscheinigen Begründungen unter Hausarrest stand. Inzwischen lebt Serebrennikov in Berlin und ist an europäischen Bühnen ein Kultautor. Wer nun gedacht hätte, dass der Regisseur in Zürich mit dem Putin-Regime abrechnen würde, sah sich bei der Premiere gründlich getäuscht.

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Matthew Newlin (Idiot) und Campbell Caspary (Idiot Double)
© Frol Podlesnyi

In der auf Deutsch gesungenen Fassung von Leben mit einem Idioten ist alles Russische, ja alles Politische getilgt. Stattdessen zeigt der Regisseur das Psychogramm eines Ehelebens. Der Idiot – der Name Wowa ist gestrichen – erscheint nicht als das von außen hereinbrechende Böse, sondern als ein Alter Ego des Ehemanns, der hier auch kein Schriftsteller mehr ist. Am deutlichsten zeigt sich dies in einer homosexuellen Anmach-Szene zwischen dem „Ich“ und dem Idioten. Durch einen Spiegel, der zwischen die beiden Männer geschoben wird, erblickt der Ehemann nicht sein Gegenüber, sondern sich selbst. Den zu Gewalt, Exzess und roher (Homo)-Sexualität neigenden Idioten trägt er also in sich selbst.

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Bo Skovhus (Ich), Matthew Newlin (Idiot) und Campbell Caspary (Idiot Double)
© Frol Podlesnyi

Grundsätzlich ist gegen eine Neudeutung von Schnittkes Oper nichts einzuwenden. Serebrennikov erklärt im Programmbuch, er habe weder eine Oper über Lenin noch über Putin machen wollen. Und Jerofejew versteigt sich gar zur Bemerkung: „Ich bin der Meinung, Leben mit einem Idioten ist nicht in erster Linie eine politische Oper.“ Um die russischen Elemente zu tilgen, wurden für die deutschsprachige Zürcher Fassung zahlreiche Änderungen vorgenommen. Gemäß einer Recherche von Anna Kardos in der NZZ am Sonntag wurden am Libretto an 83 Stellen Wörter gestrichen oder durch andere ersetzt und zudem auch einige musikalische Passagen gestrichen.

Bo Skovhus (Ich) © Frol Podlesnyi
Bo Skovhus (Ich)
© Frol Podlesnyi

Wie funktioniert nun das Psychogramm eines Ehelebens auf der Bühne? Nicht schlecht, denn Serebrennikov ist einer, der sein Handwerk versteht. Neben der Regie zeichnet er, mit einem Stab von Mitarbeitern, auch für Bühnenbild und Kostüme verantwortlich. Bei den Kostümen herrschen die Farben Weiß, Schwarz und Rot vor; rot ist vor allem das Theaterblut, mit dem die Protagonisten beschmiert sind. Die Bühne, oft von gleißendem Neonlicht beleuchtet, zeigt bald einen Partyraum, bald eine Galerie oder eine gestylte Wohnung. Die Handlung spielt denn auch gemäß Textbuch „in nicht allzu ferner Zukunft“.

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Leben mit einem Idioten
© Monika Rittershaus

Irritierend ist allerdings die Darstellung beziehungsweise Nichtdarstellung zweier Schlüsselszenen der Oper: Zum einen wird die Frau gar nicht vergewaltigt. Bei der einschlägigen Bum-Bum-Bum-Musik des Orchesters sticht der Sänger-Idiot mit einem Messer auf den Darsteller-Idioten ein. Wie die Frau dann trotzdem schwanger wird, bleibt ein Rätsel. Zweitens wird nicht ersichtlich, ob die Frau am Schluss überhaupt ermordet wird, und wenn ja, ob der Idiot oder der Ehemann als Täter in Frage kommt.

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Bo Skovhus (Ich) und Campbell Caspary (Idiot Double)
© Frol Podlesnyi

Hervorragend sind die Hauptrollen besetzt. Die folgenreichste Änderung gegenüber dem Original betrifft den Idioten. Serebrennikov spaltet ihn in einen Sänger und einen Schauspieler auf. Während der Tenor Matthew Newlin in seinem diabolischen schwarzen Gewand die ganze Zeit nur sein beklopptes „Äch“ herausschreit, zeigt Campbell Caspary die animalische und enthemmte Seite der Rolle. Er bewegt sich oft splitternackt auf der Bühne. Der „Ich“ erliegt ihm total und entdeckt so seine homosexuellen Neigungen.

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Bo Skovhus (Ich) und Susanne Elmark (Frau)
© Monika Rittershaus

Der Bariton Bo Skovhus, erstmals am Haus, entpuppt sich als sensationeller Sänger und Darsteller. Den häufig atonalen, im Ambitus von profunder Tiefe bis in die Falsettlage reichenden Solopart bewältigt er scheinbar mühelos. Starke Eindrücke hinterlässt auch Susanne Elmark, die die Rolle als Ehefrau alias Liebesobjekt des Idioten alias Geliebte Prousts mit einem umwerfenden Koloratursopran und einem virtuos beherrschten Gefühlsrepertoire wiedergibt. In kleineren Rollen sind Magnus Piontek als Wärter und Birger Radde als Marcel Proust zu hören.

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Leben mit einem Idioten
© Monika Rittershaus

Eine großartige Leistung zeigt der Chor der Oper Zürich. Die Choristen befinden sich fast die ganze Zeit auf der Bühne und schlüpfen wechselnd in die Rollen des Erzählers, des Kommentators oder der Mitspielenden. Die Philharmonia Zürich, sonst mehr im herkömmlichen Opernrepertoire beheimatet, spielt die avancierte Musik Schnittkes, als ob sie sich ständig mit ihr befassen würde. Zu verdanken ist das dem amerikanischen Dirigenten Jonathan Stockhammer, der mit allen Wassern der zeitgenössischen Musik gewaschen ist. Unter seiner Stabführung bereitet Schnittkes polystilistische Musik, die vom Tango über das Volkslied bis zu Schostakowitsch-Anspielungen und Atonalität reicht, echtes Vergnügen. Falls man dieses Wort angesichts der Brutalität des gezeigten Geschehens überhaupt in den Mund nehmen darf.

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