Wer sich behaglich im Sessel hätte zurücklehnen wollen, der wäre in diesem Konzert des SWR Symphonieorchesters unter der Leitung von Teodor Currentzis am falschen Platz gewesen. Zuerst zog eine Uraufführung, die Psalmodie Gospodi vozvah des serbischen Komponisten Marko Nikodijevic, unmittelbar und intensiv die Aufmerksamkeit auf sich; mit ihrem Beginn aus einem langen Trommelcrescendo, das sich fast zu unerträglicher Lautstärke steigerte. Es folgte die 13. Symphonie „Babi Jar” von Dimitri Schostakowitsch – kompromisslos harte und erschütternde Musik, eine Abrechnung des Komponisten mit dem Stalinismus und ein Denkmal für dessen Opfer.

Beide Werke schienen eindrucksvoll auf einander bezogen: der überwältigende Klangeindruck des Stücks von Nikodijevic und die erschütternden musikalischen Aussagen der Symphonie von Schostakowitsch. Beide ließen das Publikum vom ersten Moment an nicht mehr los. Und beide lebten von der Spannung zwischen Einzelnem und Ganzem: in der Psalmodie war es die Viola als Instrumentalstimme im Gegenüber mit dem Orchester, bei Schostakowitsch ergänzten sich Solostimme und unisono singender Männerchor mit dem Orchester.
Inhaltlich blieb die Psalmodie unbestimmt. Sie orientiert sich offensichtlich am orthodoxen Kirchengesang, Näheres teilte das Programmheft leider nicht mit. Antoine Tamestit brachte die ausgedehnte Melodik wundervoll zum Singen, ließ die ganze Bandbreite der Klänge seines Instruments leuchten: die gesättigten Töne der tiefen Lagen, das zarte Flageolett in ätherischen Höhen, die Wärme der Mittellage und auch die verfremdenden Glissandi über ganze Oktaven hinweg. Berückend war der Klangfarbenreichtum, den Tamestit seiner Stradivari entlockte. Diesen zarten, hoch differenzierten Klängen des Solisten gab das Orchester einen ebenso klangfarbigen Resonanzraum aus teils ruhigen, teils explosiven Passagen, die Currentzis so perfekt organisierte, dass der Solist mit seinem Instrument nie überdeckt wurde. Extrem leise im zartem Glissando der Viola und einem fernen Glockenton verklang dieses eindrucksvolle Werk.
„Babi Jar” bezieht sich auf eines der ungeheuersten Einzelverbrechen während des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion, als Wehrmacht und SS-Einheiten 1941 in dieser Schlucht bei Kiew binnen drei Tagen über 33.000 jüdische Menschen ermordeten. 20 Jahre lang wurde dieses Verbrechen in der Sowjetunion verschwiegen. Mitgefühl mit dem Leiden des jüdischen Volks war in der antisemitischen Stalin-Ideologie nicht opportun. Nach dem Tod des Diktators in der kurzen Periode des „Tauwetters” klagte Jewgenij Jewtuschenko in einem Gedicht diese Verweigerung des Gedenkens an. Die Juden würden dadurch ein weiteres Mal ermordet. Schostakowitsch vertonte das Gedicht zu einer symphonischen Kantate, die er später um vier weitere Sätze auf Gedichte Jewtuschenkos zu seiner Symphonie erweiterte.
Glockenschläge, leise Bläsersignale, schwere Paukenschläge – im dumpfen Marschrhythmus begann der erste Satz. „Es steht kein Denkmal über Babi Jar” hob der Männerchor fast tonlos an. Die Stimmen wurden hässlich und grob, als sie vom Blut erzählten und von den grölenden Stimmen der betrunkenen Soldaten. In einer gestreamten Probe zu dieser Aufführung verglich Currentzis diese Musik mit den Radierungen Goyas über die Schrecken der Kriege Napoleons. Genauso ungeschminkt realistisch klang hier die Klage über das jüdische Leid und die Anklage gegen das Vertuschen ihrer Opfer. Expressiv und mit starker persönlicher Anteilnahme sang Alexander Vinogradov den Solopart, aus dem die Identifikation mit dem Schicksal der Juden spricht. Und der Estnische Nationale Männerchor flankierte außerordentlich differenziert und packend.
Grotesk und sarkastisch klang der zweite Satz, in dem der Witz als Mittel des politischen Protests die Hauptrolle spielt. Currentzis führte das Orchester hier zu höchster Brillanz, steigerte den überdrehten Rhythmus fast bis zum Bersten. Im dritten Satz, Im Laden, malten die tiefen Streicher die depressive Stimmung der russischen Frauen, niedergedrückt von der Last des mühsamen Lebensunterhalts. Beklemmend dann die Stimmung des vierten Satzes Ängste mit der Basstuba in düsterer Chromatik als einer Ahnung von Bespitzelung und Repression. Erfahrungen, die dem Komponisten selbst nur allzu bekannt waren. Die Symphonie schließt mit einem ironischen Schlenker: Karriere zu machen, heißt sich selber aufzugeben. Der Komponist dagegen zieht sich am Schluss auf ein lyrisches Duett der Violine mit der Viola zurück, gekrönt von himmlischen Celestaklängen. Hier leuchtete ein Moment der Utopie auf inmitten all des Grauens dieser Symphonie. Ein Konzertende, das lange nachklang.