„Was konnte man dem Lärm der Zeit entgegen setzen“, fragt der literarisierte Dimitrij Schostakowitsch in Julian Barnes‘ 2017 veröffentlichtem Roman über den russischen Komponisten. „Nur die Musik, die wir in uns tragen – die Musik unseres Seins –, die von einigen in wirkliche Musik verwandelt wird“ lautet die Antwort. So darf auch auf die Pfingstfestspiele Baden-Baden zurückgeblickt werden. Das SWR Symphonieorchester unter ihrem Leiter Teodor Currentzis widmete sich hier am vergangenen Wochenende gemeinsam mit dem Pianisten Kirill Gerstein zunächst Schostakowitschs Klavierklavierkonzert Nr. 2 und legte im Anschluss mit Igor Strawinskys Ballettmusik Le Sacre du printemps einen musikalischen Gegenentwurf dar.

Obschon das jüngere Werk, so ist das 1957 uraufgeführte, Zweite Klavierkonzert Schostakowitschs der Tradition verhaftet, fügt sich in die musikalische Doktrin des Sowjetsystems ein. Doch unter dem Deckmantel der kompositorischen Strenge des ersten Satzes, der in seinem Viervierteltakt an das 18. Jahrhundert anschließt, legt Currentzis in der mit Gerstein erarbeiteten Interpretation eine Form der Karikatur frei.
Die an sozialistische Märsche erinnernden, musikalischen Phrasen werden von dem US-amerikanischen Pianisten in einer exzellenten, äußerst präzisen und vor Leichtigkeit sprudelnden Spielweise geradezu in den Bereich einer improvisierenden Geste, wie sie Grundlage des Jazz ist, auf äußerst subtile Weise übergeleitet. Sie führen im Andante des zweiten Satzes in eine melodische, zärtliche Musik, aufgefangen von einem wunderbar satten Klangkörper der Streicher. Mit ihm gelingt es Currentzis eine Welt heraufzubeschwören, wie sie fernab eines kapitalistischen Machtsystems für den russischen Komponisten, der zeitlebens unter der ständigen Beobachtung durch den Staat stand, hätte sein können oder gar in der Gegenwart möglich wäre.
Doch die Gegenwart, das Thema der mit Presence überzeichneten Pfingstfestspiele, kehrt im dritten Satz wieder. Durch rhythmische Schärfe und das wache, aus den verträumten musikalischen Gedanken gerissene Spiel werden die Zuhörerinnen und Zuhörer in einer fulminanten Ensembleleistung von Solist und Orchester zurückholt. Schostakowitschs Klavierkonzert Nr. 2, gewidmet seinem Sohn Max zum 19. Geburtstag, erweist sich über die Zeit hinaus nicht allein als Geschenk an das eigene Kind sondern als Vermächtnis gegen „den Lärm der Zeit“, das Kirill Gerstein mit der Zugabe einer Melodie von dem im amerikanischen Exil lebenden Sergej Rachmaninow noch zu unterstreichen wusste.
Lärmend, mehr an Geräusche denn an Musik erinnernd empfand das französische Publikum im Jahr 1913 die Uraufführung von Igor Strawinskys Le Sacre du printemps, der letzten der drei großen Ballettmusiken für Orchester. Bis heute gehört sie in der Choreographie des Tänzers Vaslav Nijinsky am Pariser Théâtre des Champs-Elysées zu einem der größten Skandale der Musikgeschichte. Und auch Teodor Currentzis’ Dirigat dieses Musikstückes hat hiervon nichts eingebüßt, es ist in seiner präzisen und kontrastreichen Auslegung skandalös – skandalös gut! Wie getrieben führt er das SWR Symphonieorchester, das durchweg klanglich herausragend spielt, kompromisslos durch den musikalischen Opferritus, welcher den fein kritisierten Kapitalismusgedanken seines Programmvorgängers, des Zweiten Klavierkonzertes von Schostakowitsch, in eine Naturgewalt überführt.
Grandios lagert sich hier ein musikalisches Muster über das andere, werden die Tempi variiert und zwischen heftigem Schlagwerk und sich hell aufschwingenden Fagott Akzente gesetzt, ohne das Ende, die Opferung eines jungen Mädchens in archaischer Zeit, aus dem Blick zu verlieren. Der in Griechenland geborene Dirigent führt nicht mehr allein durch diesen Abend, er durchlebt die Musik: angefangen mit heftigen Fausthieben mit den Armen, die die Luft durchschneiden, über den sich in den Wellen der Streicher sich wiegenden Oberkörper bis in zum Aufschlagen des harten Rhythmus mit den Füßen. Das ist faszinierend und erschütternd zugleich, das ist, so meint man fast, unsere Gegenwart.