Man muss sie einfach noch einmal gehört haben: Die vier Mitglieder des Hagen-Quartetts haben angekündigt, ihre künstlerische Tätigkeit im nächsten Sommer zu beenden. Gegenwärtig unternehmen sie eine Abschiedstournee durch verschiedene Länder, und am 16. Juni 2026 wird im Mozarteum Salzburg das endgültige Abschiedskonzert stattfinden. Nach einer beispiellosen Karriere über 45 Jahre wird dann definitiv Schluss sein. Die Besonderheit des Ensembles besteht aber nicht nur in der rekordverdächtigen Dauer seines Bestehens, sondern auch darin, dass von den vier Geschwistern, die bei der Gründung mitmachten, drei bis heute dabei sind. Es sind dies der Primarius Lukas Hagen, die Bratschistin Veronika Hagen und der Cellist Clemens Hagen. Anstelle von Angelika Hagen sitzt seit 1987 Rainer Schmitt an der zweiten Violine.

In der altehrwürdigen Kirche von Saanen, der Wiege des Gstaad-Menuhin-Festivals, präsentierte das Ensemble zwei Standardwerke des Kammermusikrepertoires, die gerade in ihrer Gegensätzlichkeit gut zueinander passten. Den Anfang machte das Streichquartett Nr. 3 in A-Dur, Op.73 von Dmitri Schostakowitsch. Beim Anhören des ersten der fünf Sätze mochte bei den Zuhörern, die das Werk nicht kennen, die Erwartung geweckt werden, ein heiteres klassizistisches Werklein à la Mozart vorgesetzt zu bekommen. Doch der zweite Satz bot dann, nach flottem Start, mehr und mehr Eintrübungen und irritierende Wendungen. In eine richtig bedrohliche Klangwelt führte das Quartett im dritten Satz. Rhythmisch stampfend, mit hartem Strich und schrillen Dissonanzen charakterisierten die Musiker ihn als das pure Gegenteil dessen, was man als schön und harmonisch empfindet.
In dem 1946 komponierten Streichquartett feiert Schostakowitsch nicht den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland, sondern zeichnet ein fünfteiliges Stimmungsbild, das die Wunden des Krieges reflektiert und am Schluss die leise Hoffnung auf eine bessere Zukunft erahnen lässt. Der vierte Satz, oft als Requiem für die Gefallenen des Krieges charakterisiert, ging in der Interpretation des Hagen-Quartetts unter die Haut. Wie in einem langsamen Satz eines der späten Streichquartette Beethovens strichen sie das polyphone Geflecht aus Melodie- und Begleitstimmen in luzider Weise heraus. In höchster technischer und gestalterischer Meisterschaft endete der fünfte Satz mit dem im dreifachen Piano geraunten F-Dur-Akkord, der mit dem tiefen Cello-Ton und den höchsten Tönen der Violinen den ganzen Klangraum umspannte. Ein Tor des Friedens vielleicht?
In eine ganz andere Welt führte das Klavierquintett in f-Moll, Op.34 von Johannes Brahms. Zu den ergrauten Häuptern des Hagen-Quartetts gesellte sich hier der junge japanische Pianist Mao Fujita. Schon nach dem ersten Satz konnte man staunend bemerken, dass sich der Pianist bestens als Konterpart der Streicher etablierte. Er übertönte sie aber nie, was bei deren klanglichem Potenzial auch kaum möglich gewesen wäre. Überhaupt staunte man, wie hier fünf so unterschiedliche musikalische Charaktere zu einer derart harmonischen Einheit zusammenfanden. Lukas Hagen ist ein Alphatier, wie es im Büchlein steht, Rainer Schmitt schmiedet Koalitionen nach allen Seiten. Veronika Hagen ist die Seele des Ensembles und blickt leicht verschmitzt nach allen Seiten, Clemens Hagen, ein musikalisches Urgestein, verkörpert das rhythmische Gewissen. Und Mao Fujita mit seinem extravertierten Charakter steuert die jugendliche Begeisterungsfähigkeit bei.
Gerade im Andante, wo das rhythmisch profilierte Thema zuerst im Klavier erklingt, zeigte sich das Gegeneinander und Miteinander von Piano- und Streicherschicht in schönster Weise. Einigkeit demonstrierte das Ensemble auch in einem leidenschaftlichen, ausgesprochen romantischen Zugriff auf das Streichquintett, eine Deutung, die bei jüngeren Ensembles oft einem schlankeren, weniger emotionalen Ansatz weicht. Beeindruckend auch die Kombination von Gefühl und Kontrolle, die zum Charakter dieses Kammermusikwerks ausgezeichnet passt. Ein Beispiel wäre etwa das Scherzo, bei dem, sprichwörtlich gesagt, „die Pferde durchbrannten“. Aber bei allem Überschwang des Ausdrucks geriet das vertrackte rhythmische Gefüge nie aus dem Lot. Das ist großartige Kunst!
Die Kosten von Thomas Schachers Pressereise wurden vom Gstaad Menuhin Festival übernommen.