Vor noch nicht allzu langer Zeit galt die russische Cellistin Anastasia Kobekina als Geheimtipp. Als ich sie im Sommer 2021 am Verbier-Festival in einer Aufführung von Schuberts Streichquintett C-Dur zum ersten Mal hörte, war ich von den kommunikativen und kammermusikalischen Fähigkeiten der damals 26 Jahre jungen Künstlerin beeindruckt. Im März 2022, kurz nach dem Einmarsch der Russen in die Ukraine, war Kobekina dann plötzlich in aller Leute Mund: Die Stiftung Karthause Ittingen hat die bereits unter Vertrag stehende Cellistin wieder ausgeladen, weil sie Russin ist, obwohl Kobekina ihre Verurteilung des russischen Angriffskrieges mehrfach öffentlich dokumentiert hat.

Die Kehrseite dieser Brüskierung lag darin, dass Kobekina mit einem Schlag berühmt wurde. Im laufenden Jahr tritt die Künstlerin jeden Monat durchschnittlich sieben Mal in verschiedenen europäischen Stationen als Solistin und Kammermusikerin auf. Studiert hat sie unter anderem bei Frans Helmerson an der Kronberg Academy. Beim Tschaikowsky-Wettbewerb 2019 in Moskau erhielt sie den dritten Preis. Sie ist bei Sony Classical unter Vertrag und hat dort vor einem Jahr ihr erstes Album Venice herausgebracht.
In der Tonhalle Zürich interpretierte Kobekina, begleitet vom Tonhalle-Orchester unter der Leitung von Semyon Bychkov, das Cellokonzert C-Dur, Hob. VIIb:1 von Joseph Haydn. Mit der Wahl dieses bekannten Werks setzte sie sich zwangsläufig dem Vergleich mit ihren berühmten Kolleginnen und Kollegen aus. Doch kaum hatte die Solistin das Hauptthema des ersten Satzes intoniert, vergaß man das allfällige Schielen nach Vergleichen auf der Stelle. Es erging dem Kritiker gar so, als ob er das Konzert noch nie gehört hätte – oder zumindest noch nie in dieser Art. Allgemein formuliert paart sich bei Kobekinas Spiel eine ansteckende Jugendlichkeit und Lebendigkeit mit einer bereits reifen Künstlerpersönlichkeit.
Im Detail könnte man im Moderato-Satz den Kontrast erwähnen, den die Solistin zwischen den melodiösen Linien und den energischen Läufen der Zwischenstücke generierte. In der wohl von ihr stammenden Kadenz entfernte sie sich schelmisch etwas vom Haydn-Stil. Im Adagio brillierte sie auf ihrem Stradivari-Cello mit wunderbaren Kantilenen und spielte dabei so frei, als würde sie aus dem Stegreif musizieren. Ein besonderes Vergnügen bot das Finale, das die Solistin in einer lustvollen und geradezu theatralischen Art interpretierte. Dass der Solopart technisch etliche Tücken aufweist, war ihrem Spiel überhaupt nicht anzumerken. Als Zugabe spielte Kobekina, zusammen mit einem Perkussionisten des Tonhalle-Orchesters, ein Stück ihres Vaters, des Komponisten Vladimir Kobekin, für Violoncello und Schellentamburin. Folkloristisch und tänzerisch kam das daher.
Und das Orchester? Wie Gastdirigent Bychkov Haydns Musiksprache versteht, hat er bereits in dessen Symphonie e-Moll, Hob. I:44, der so genannten „Trauersymphonie”, gezeigt. Einer kleinen Streicherbesetzung mit acht ersten Violinen standen die deutlich hörbaren Bläser mit zwei Hörnern und zwei Oboen gegenüber. Bychkov dirigierte ohne Taktstock und ließ das Tonhalle-Orchester, das ja kein Alte-Musik-Ensemble ist, in einem geradezu Esterházy-artigen Geist musizieren. Frisch und bisweilen keck klangen die Sätze, ohne dass dabei etwas Aufgesetztes in Erscheinung trat. Und genau in diesem Geist begleitete Bychkov auch das C-Dur Konzert.
Bei Franz Schuberts Symphonie Nr. 2 in B-Dur zeigte sich eine andere Ästhetik. Bychkov unternahm den Versuch, aus dem 1815 vollendeten Frühwerk eine Beethoven-Imitation zu machen. Gewiss war Beethoven, dessen Symphonien mit Ausnahme der Neunten bis zu diesem Zeitpunkt bereits vorlagen, ein großes Vorbild Schuberts. Doch die stilistische Nähe der Zweiten zu dem von Schubert ebenfalls verehrten Haydn wäre die Gelegenheit gewesen, diesen Zusammenhang auch interpretatorisch zu realisieren. Dass Bychkov dies nicht tat, war eine verpasste Gelegenheit. So erklang das Werk in den Ecksätzen klanglich massig und emotional aufgeladen. Und sogar in den Rahmenteilen des Menuetts drehten Hörner, Trompeten und Pauken mächtig auf; nur in dessen Mittelteil breiteten die Holzbläser einen lieblichen Schubertiaden-Ton aus.