Mit seiner Zweiten Symphonie hat Gustav Mahler die Zeitgenossen überfordert. Nach der Uraufführung der ersten drei Sätze schimpfte ein Kritiker über ein „Chaos an Misstönen”. Er habe „nicht Musik, sondern Lärm” gehört. Da Mahler selbst dirgierte, wird es nicht am Dirigenten gelegen haben. Wohl eher sind diese Aussagen unrühmliche Beispiele missverstehender Kritik. Da sind wir heute weiter, Mahlers Zweite gehört zu seinen beliebtesten Symphonien. Wie sehr sie faszinieren, ja in den Bann schlagen kann, war jetzt im Festspielhaus Baden-Baden mit den Bamberger Symphonikern zu erleben.

Jakub Hrůša dirigiert die Bamberger Symphoniker, mit Christina Landshamer und Anna Lucia Richter
© Andrea Kremper

Das monumentale Werk bedeutet für den riesigen Orchesterapparat, den großen Chor und die beiden Solistinnen eine ungeheure Kraftanstrengung. Es bedarf einer hoch gespannten Aufmerksamkeit des Dirigenten, die komplexe Struktur zu ordnen, die extrem divergierenden Elemente organisch zusammenzufügen und die Entwicklungsbögen so zu gestalten, dass die innere Logik der Musik hervortreten kann. Nicht zuletzt gilt es, den Klang zu formen, die oftmals gewaltigen Klangmassen zu bändigen, damit die Musik ihre Aussage entfalten kann. Bei einer Aufführung dieser Symphonie inmitten ihrer überdimensionalen Architektur eine Balance der einzelnen Teile zu finden, gelingt nicht immer. An diesem Abend gelang es in vollendeter Weise. Diese Aufführung unter der Leitung von Jakub Hrůša wurde zu einer musikalischen Sternstunde.

Nicht allein die perfekte Technik war das Besondere dieses Abends. Mahlers Zweite führt gleichsam durch ein Gebirge von Gefühlen. Der Kontrast der Stimmungen in diesen fünf Sätzen könnte größer nicht sein. Hrůša ließ all dies sich allein aus der Musik entwickeln – durch eine klug kalkulierte dynamische Stufung und durch nuanciert ausformulierten Ausdruck. Niemals wirkten die Emotionen äußerlich oder wie ein gemachter Effekt. Beeindruckend gelang im ersten Satz der Stimmungsumschwung von der entfesselten Kraft des Einleitungsthemas, dem kollektiven düsteren Tremolo der tiefen Streicher, hin zum lyrischen Seitensatz, den die solistisch konzertierenden Bläser bestimmen. Wie einer Insel der Ruhe ließ Hrůša hier diesem elegischen Moment seinen gehörigen Raum.

Wie sehr Dirigent und Orchester die ganze Symphonie auch vom Klang her dachten, zeigten sie besonders schön in den folgenden Sätzen. Weil Hrůša größten Wert auf Transparenz legte, kamen die jeweiligen Klangfarben wunderbar zur Geltung und der Charakter der Sätze wurde eindrucksvoll lebendig: graziös der Ländler des zweiten Satzes, ein Idyll an klanglicher Schönheit und mit subtilem Humor der sich wie ein Perpetuum mobile drehende dritte Satz, in dem Mahler sein Wunderhorn-Lied von der vergeblichen Predigt des Hl. Antonius an die Fische verarbeitet hat. Durch derart ausgefeilte Artikulation kam Mahlers meisterlich Instrumentationskunst zu schönster Wirkung.

Urlicht, der vierte Satz, brachte in seiner erhaben feierlichen Stimmung wieder ganz neue Farben. Anna Lucia Richter sang dieses Wunderhorn-Lied mit wundervollem Ton, schlicht im Ausdruck und zugleich mit ergreifender Tiefe. Zusammen mit dem schwebenden Solo von Violine und Piccoloflöte entstand für einen Moment ein musikalisches Bild von intensiver Schönheit, fern jeder falschen Sentimentalität.

Mahler begriff seine Symphonie als musikalisches Gemälde, dessen dramatischste Szenen er im grandiosen Finale entwarf, wenn er nach allem irdischen Glück im zweiten Satz und aller Mühsal im dritten den Jüngsten Tag heraufbeschwört. Von einem inneren Programm seiner Symphonie hatte Mahler zwar gesprochen, es aber nie veröffentlicht. Im Festspielhaus konnte diese Dramaturgie intensiv erlebt werden. Aus dem Foyer, von der Hinterbühne, aus mehreren Richtungen erschallten Hörner, Trompeten und Trommeln wie Signale der Apokalypse, bis der Chor in mystischem Pianissimo außerordentlich homogen und klangvoll zum „Auferstehn” ansetzte. Sachte floss die ausnehmend schöne Sopranstimme Christina Landshamers in den Chorklang hinein und in einem großem Ausbruch von Klang und Harmonie kam die Symphonie in einer gloriosen Schlussapotheose zu ihrem Ziel.

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