Lange war es wie ein Wunder: An Herbert Blomstedt schien die Zeit spurlos vorüberzuziehen. Alt war er zwar schon lange, aber das sollte seiner körperlichen und geistigen Fitness keinen Abbruch zu tun. Im Sommer 2022, anlässlich des 95. Geburtstags des schwedisch-amerikanischen Dirigenten, überschlugen sich die Feuilletons mit Artikeln, welche die nach wie vor ungebrochene Energie des Maestros in den Vordergrund rückten. In den letzten Tagen ist Blomstedt, der am 11. Juli seinen 97. Geburtstag feiert, in der Tonhalle Zürich aufgetreten – mit einem reinen Mozart-Programm.

Herbert Blomstedt © J.M. Pietsch
Herbert Blomstedt
© J.M. Pietsch

Was als erstes ins Auge springt, ist die Gebrechlichkeit des Mannes. Gestützt von einem Geiger des Orchesters betritt er das Podium und setzt sich mühsam auf seinen Stuhl vor dem Dirigierpult. Darauf gibt er den Einsatz für das Orchester, und nach wenigen Minuten hat man diese Auftrittsszene vergessen. Wenn Blomstedt einmal in die Musik eingetaucht ist, dann scheint alle irdische Unzulänglichkeit von ihm gewichen zu sein. Und seine Ausstrahlung scheint die Orchestermusiker vom ersten Augenblick an zu verzaubern.

Neben der „Linzer“ steht die „Jupiter“-Symphonie auf dem Programm. Ein reiner Mozart-Abend – das ist für das Tonhalle-Orchester Zürich ein seltenes Ereignis. In den symphonischen Programmen der Saison 2023/24 findet sich sonst keine einzige Mozart-Symphonie, nur gerade das Oboenkonzert und ein Klavierkonzert. Die Dirigenten philharmonischer Orchester, nicht nur des Tonhalle-Orchesters, wollen heutzutage eben nicht mehr Mozart dirigieren. Den Klassiker haben sie seit vielen Jahren den Experten der Alte-Musik-Szene überlassen. Auch Blomstedt ist kein Mozart-Spezialist – trotz seiner Einspielung der letzten drei Symphonien mit dem Orchester des Bayerischen Rundfunks im letzten Frühjahr. Beethoven, Brahms, Bruckner und die nordeuropäischen Komponisten bilden sein Kernrepertoire. Man kommt also nicht um die Vermutung herum, dass das Mozart-Programm mit den beiden je halbstündigen Symphonien auch im Hinblick auf die physischen Kräfte des Maestros ausgewählt wurde.

In der Besetzung kombiniert Blomstedt moderne Streichinstrumente mit historischen Instrumenten bei den Holzbläsern, Trompeten und Pauken. Während in der Stimmung die heute gebräuchliche mit 440 Hertz angesagt ist (das geht mit modernen Streichinstrumenten gar nicht anders), fließen bei der Interpretation etliche Elemente der historischen Aufführungspraxis ein. Diese hybride Sowohl-als-auch-Ästhetik funktioniert in der Praxis recht gut. Beispielsweise bilden die Flöte, die Oboen und die Pauken ein hörbares Gegengewicht zu den Streichinstrumenten. Die Tempi sind flüssig, die Melodien und Motive werden deutlich artikuliert, das polyphone Geflecht ist gut hörbar.

Wie viel Einfluss nimmt Blomstedt auf das musikalische Geschehen? Wenn man die Probenarbeit nicht miterlebt hat und im Konzert nur den Rücken, nicht aber die Mimik des Dirigenten sieht, ist das schwierig zu beantworten. Seine Handbewegungen wirken ungelenk und scheinen keine Hilfe für das Orchester zu sein. Jedenfalls gibt er den Musikern viel Raum für eigenverantwortetes Spiel. Und es ist nicht immer klar, ob der Lead nun beim Dirigenten oder bei der Konzertmeisterin Julia Becker und den Stimmführern liegt. Der Nachteil dieses Gewährenlassens liegt darin, dass die rhythmische Koordination nicht immer perfekt klappt. Am auffälligsten macht sich dieser Mangel im Andante cantabile der „Jupiter“-Symphonie bemerkbar. Im berühmten Finale mit seinem kontrapunktischen Raffinement mobilisiert Blomstedt dann eine sprühende Energie, die man ihm kaum mehr zugetraut hätte.

Zum Schluss gab es Standing Ovations des Publikums. Es ist nicht auseinanderzuhalten, ob sie der interpretatorischen Leistung oder dem biblischen Alter des Dirigenten galten. Und manch einen beschlich wohl das Gefühl, den legendären Maestro zum letzten Mal im Konzert erlebt zu haben.

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