Arnold Schönbergs Gurre-Lieder sind ein singuläres Werk. Es ist nicht nur eine Sammlung von Liedern mit Orchesterbegleitung, eher eine lyrisch-dramatische Liedsymphonie mit einem Scherzo, einem Melodram und einer abschließenden Chor-Apotheose. Etwa zur selben Zeit (1913) uraufgeführt wie Gustav Mahlers Achte Symphonie, ist es ähnlich monumental, übertrifft diese allerdings in Ausmaß und Vielfalt. Kurzum: ein Werk, das alle Grenzen sprengt.

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Gurre-Lieder
© BR | Astrid Ackermann

Jede Aufführung bedeutet eine Kraftanstrengung: fünf Gesangssolisten, ein Sprecher, zwei Chöre und ein Riesenorchester, besetzt mit allein vier Piccoloflöten bis hinunter zur Kontrabasstuba, 40 Streichern, darunter acht Bässen, vier Harfen, Celesta und einem reichhaltigen Schlagwerk inklusive Ratsche und Eisenketten. Fast 300 Mitwirkende standen auf der erweiterten Bühne und den hinteren Rängen der Isarphilharmonie. Ein Mammutapparat, den Simon Rattle unübertrefflich regierte und im Griff behielt und ein grandioses Geschenk, welches Symphonieorchester und Chor des Bayerischen Rundfunks anlässlich ihres 75-jährigen Bestehens ihrem Publikum bereiteten.

Jamie Barton und Simon Rattle © BR | Astrid Ackermann
Jamie Barton und Simon Rattle
© BR | Astrid Ackermann

Zwanzig Gedichte von Jens Peter Jacobsen hat Arnold Schönberg in einem langen Schaffensprozess zu diesem überwältigenden Werk zusammengefasst. Metaphernreich erzählen sie in symbolistischer Sprache eine Geschichte aus der dänischen Mythologie: von König Waldemar auf der Burg Gurre und seiner heimlichen Geliebten Tove. Als Helwig, Waldemars Frau, das junge Mädchen aus Eifersucht töten lässt, lästert Waldemar Gott wegen seines Schicksals und ist verurteilt, als Untoter aus verzweifelter Sehnsucht nach Tove mit seinen Mannen durchs Land zu irren. Die Gedichte hängen nur lose zusammen, instrumentale Zwischenspiele erzählen die Handlung weiter, die Rattle immer wieder zu instrumentalen Glanzpunkten führte.

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Simon O'Neill
© BR | Astrid Ackermann

Den ersten Teil bestimmt die Liebe zwischen Waldemar und Tove, die sich bis zum tragischen Ende zu starker Leidenschaft steigert – Lieder voller Lyrik und großer musikalischer Poesie. Alles wird eingeleitet von einem Vorspiel – einer Abenddämmerung als impressionistischer Klangzauber aus Glitzern und Schweben der Töne wie ein Aquarell aus Musik, das Rattle mit dem exzellent spielenden Orchester außerordentlich fein nachzeichnete. Als Tove hörten wir Dorothea Röschmann, die als bewährte Liedsängerin mit reichen Farben und lyrischer Empfindung diese Partie gestaltete. In tanzendem Jubel sang sie von der freudiger Erwartung des Geliebten. Ihre Stimme verströmte Natürlichkeit, war in der Höhe strahlend und vor allem in der Mittellage erfüllt von Wärme und Zuneigung und schwärmerisch in ihrer Liebeserklärung.

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Thomas Quasthoff
© BR | Astrid Ackermann

Ein Glücksfall in der Partie des Waldemar war Simon O'Neill, der als ausgewiesener Wagnertenor über beides verfügte, was hier gefragt war: die Weichheit der lyrischen Stimme wie den heftigen Ausbruch ins Heldische. Wunderbar sanft war sein „Du wunderliche Tove” und heftig seine Anklage an Gott. Bemerkenswert: O'Neills makellose Diktion und außerordentlich klare Textverständlichkeit.

Berühmt, weil mitunter auch isoliert aufgeführt, ist das Lied der Waldtaube, das vom Tod Toves erzählt. Es war an diesem Abend Jamie Barton, die diese Ballade vom Leid Waldemars und dem dumpfen Trauerzug in ebenfalls makelloser Sprache sang. Dreimal wiederholt sich die Zeile „Weit flog ich, Klage sucht ich, fand gar viel”. In sich steigerndem Mitgefühl sang die Mezzosopranistin diese Worte, um am Ende bitter anzuklagen: „Helwigs Falke war's, der grausam Gurre zerriss!” Eine zutiefst berührende Gestaltung.

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Dorothea Röschmann und Simon Rattle
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Im zweiten und dritten Teil wird es wilder, ja grotesk. Das Lied des Narren Waldemars ist ein skurriles Scherzo, das der britische Tenor Peter Hoare phantastisch sang, verschmitzt und mit hintergründiger Ironie gewürzt. Auch er in großartig klarer Diktion und schelmisch im Ausdruck. Ein Melodram, also Sprechgesang innerhalb eines solchen Werks scheint ungewöhnlich, gehört aber zu den Spezifica in Schönbergs Gesamtwerk. Hier schildert der Text des Sprechers, den Übergang von den wilden nächtlichen Jagden Waldemars und seiner Mannen zur friedlichen Stimmung einer Morgendämmerung. Nur noch der Sommerwind streicht durch das Land und melancholisch fragt der Text auf Tove anspielend, ob er „sucht, was zu früh geendet”. Thomas Quasthoff oblag diese Partie, dem erfahrenen Liedsänger, der den Charakter der Rolle auf den Punkt traf, nämlich den Text musikalisch zu sprechen, so wie er in Tonhöhe und Rhythmus vom Komponisten notiert wurde und ohne theatralischen Effekt. Eine schwierige Herausforderung, die Quasthoff souverän bewältigte.

Die Chöre dürfen nicht vergessen werden: als spukende Mannen Waldemars sangen die Herren der Chöre des Bayerischen und Mitteldeutschen Rundfunks packend ihr polyphon verwickeltes Brüllen und Klagen und am Schluss gemeinsam mit den Sängerinnen den majestätischen Hymnus der aufgehenden Sonne. In strahlendem C-Dur endete diese schier unvergessliche Aufführung.

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