Wer würde sich in diesen Wochen nicht gern von winterlich weihnachtlichen Wallungen der Gefühle verzaubern lassen! Die Bayerische Staatsoper holt für die Traditionstreuen unter den Zuschauern wieder Engelbert Humperdincks klassische Märchenvertonung von Hänsel und Gretel aus dem Fundus in Richard Jones' Regie.

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Die Nacht vor Weihnachten
© Geoffroy Schied

Für die Entdeckungsfreudigeren hingegen hat GMD Vladimir Jurowski ein Werk ausgegraben, mit dessen „teuflischem Weihnachtszauber“ er bereits 2022 bei der konzertanten Darbietung durch sein Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin gefiel und das in der Frankfurter Inszenierung als „magisches Fest“ überregionale Beachtung fand. Nikolai Rimsky-Korsakows Die Nacht vor Weihnachten, nach der Erzählung von Nikolai Gogol, wurde nun auch auf der Münchner Staatsopernbühne zum charmanten Weihnachtswunder. Dass dabei erst die vierte komplette szenische Aufführung einer Oper von Rimsky-Korsakow in München zu erleben ist, war ein zusätzliches Festtagsschmankerl.

Die Tage des christlich-orthodoxen Weihnachtsfestes sind auch Zeit der Koljada, des heidnischen Festes der Wintersonnenwende, wenn frostige Schneestürme über das Land fegen. Da ist die Nacht vor Weihnachten in einem imaginären ukrainischen Dorf deutlich vielschichtiger als im Märchen der Gebrüder Grimm, wo Hänsel und Gretel sich im letzten Moment von der bösen Hexe befreien können.

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Dmitry Ulyanov (Chub) und Ekaterina Semenchuk (Solokha)
© Geoffroy Schied

Der Schmied Wakula liebt die schöne Oksana, Tochter des wohlhabenden Bauern Tschub. Oksana will ihren Verehrer aber nur erhören, wenn er ihr die glitzernden Schuhe der Zarin bringt. Wakula verbündet sich mit dem Teufel und fliegt zur Zarin, die von seiner Bitte so gerührt ist, dass sie ihm ein Paar silberne Schuhe für Oksana schenkt. Mittlerweile macht sich Oksana Vorwürfe, weil sie sich ihre Liebe zu Wakula eingesteht und fürchtet, ihn für immer verloren zu haben, nachdem noch Gerüchte über seinen Tod im Dorf kursieren. Umso glücklicher ist sie, dass er am Weihnachtsmorgen zurückkehrt und nicht nur bei ihrem Vater um ihre Hand anhält, sondern auch das silbrige Schuhpaar überreichen kann.

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Die Nacht vor Weihnachten
© Geoffroy Schied

Gogols Märchen geben dem Fantastischen in Sagen und Mythen viel Raum. Witwe oder Hexe? Die umtriebig attraktive Solocha, die ein freundschaftliches Verhältnis zum erstaunlich zahmen Teufel pflegt, unterhält Liebschaften zur männlichen Dorfprominenz, die sie im amüsanten Versteckspiel empfangen muss, ohne die Verbindung ihres Sohnes Wakula zu Oksana verhindern zu können. Mond und Sterne hatten Witwe und Teufel bei einem Himmelsritt geraubt, das Dorf in Finsternis getaucht und obendrein einen Schneesturm entfesselt.

Eine märchenhaft verworrene Geschichte, die noch mit heidnischen Überlieferungen von Kämpfen böser Wintergeister mit den Frühlingsgottheiten angereichert ist. Rimsky-Korsakow wollte die Ukrainer und deren Alltag im zaristischen, versnobten St. Petersburg attraktiv und somit hoffähig machen. Sprachkenner werden feststellen, dass Jurowski sich für eine ukrainische Aussprache des russischen Operntextes entschieden hat: eine bedeutungsvolle Meinungsäußerung in der gegenwärtigen politischen Landschaft.

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Elena Tsallagova (Oksana)
© Geoffroy Schied

Regisseur Barrie Kosky, dem die ukrainische Dorfidylle aus der osteuropäisch jüdischen Schtetl-Gesellschaft bestens vertraut ist, arrangiert die Handlungsfäden wie in einem Kaleidoskop: Humor und Pathos, spektakulärer Exzess und sensible Intimität vermischen sich intensiv in Klaus Grünbergs mehrstöckigem Halbrund einer Dorfbühne, wo jeder seine Gefühle ausdrücken darf, alle allem zusehen können. Selbst das Publikum im Saal beobachtet ein Dorf, das sich selber dabei zuschaut, wie es sich kollektiv Geschichten erzählt. In überbordendem Treiben ein wunderbarer Bogen zum Epilog, wo von Gogol berichtet wird, dass er diese Geschichte einmal aufschreiben werde.

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Milan Siljanov (Panas)
© Geoffroy Schied

Mit seiner Vorliebe für Groteskes und Akrobatik formt Kosky gemeinsam mit Otto Pichlers Choreographie und dem Kostümbildner Klaus Bruns einen Rausch von stupender zirzensischer Beweglichkeit an Leitern und Seilen bis in den Schnürboden, aus Anspielungen, religiöser Parabel und komödiantischem Ergötzen. Eine besondere Bedeutung in der Oper räumt Kosky den Koljada-Liedern ein: Menschen und Geister singen sie, Solocha mit dem Teufel, finstere und lichte Naturwesen. Dass manche Szene in den ersten Akten sich dabei zu sehr dehnt, vergisst man gern in den beiden mehr komprimierten Aufzügen nach der Pause.

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Matti Turunen (Patsyuk) und Ekaterina Semenchuk (Solokha)
© Geoffroy Schied

Wie der Impresario im Musical Cabaret empfängt der Teufel mit weiten Armschwüngen den Orchesterleiter, das Publikum, dirigiert die gelenkige Balletttruppe, den klangsensiblen Staatsopernchor bei Klatsch und Tratsch der bäuerlichen Dorfgemeinschaft. Die funkelnden Schuhe der Zarin werden bereits szenisches Leitmotiv in der Ouvertüre; die Bühnenmöblierung bleibt sparsam, aber wirkungsvoll aufgeheizt, wenn etwa im dritten Akt festtägliche Wareniki-Teigtaschen in großen Töpfen gekocht werden, aus denen die Köche anschließend herausspringen.

Bereits die drei herausragenden Tenöre der Handlung konnte die Staatsoper bestens besetzen: mit anfangs engem, dann immer mehr aufblühendem Tenor Sergey Skorokhodov als Wakula, Tansel Akzeybek dagegen als schräger Provinzteufel. Einen würdigen Diakon verkörperte Vsevolod Grivnov. Mit dunklem biegsamem Bassbariton ragte Dmitry Ulyanov als Vater Tschub heraus, spielstark ebenso Milan Siljanov als sein Kumpel Panas. Schließlich Sergei Leiferkus: mit 79 Jahren noch ein Bassist, der nicht nur stimmlich Achtung gebietet in der Rolle des Ortsvorstehers.

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Sergei Skorokhodov (Vakula) und Elena Tsallagova (Oksana)
© Geoffroy Schied

Mit leuchtender und koloraturstarker Sopranhöhe begeisterte Elena Tsallagova als kokette und lebenslustige Oksana. Für Ekaterina Semenchuk boten die unzähligen Facetten der Solocha ungezügelte Lust am intriganten Spiel sowie melodiöse Ausstrahlungskraft. Und zum Finale, vom Bühnenhimmel hoch, schwebte Violeta Urmana als würdevoll beeindruckende Zarin engelsgleich über das Volk: eine weihnachtliche Offenbarung!

Tansel Akzeybek (Der Teufel) © Geoffroy Schied
Tansel Akzeybek (Der Teufel)
© Geoffroy Schied

Den stimmgewaltigen Staatsopernchor hatte Christoph Heil bestens vorbereitet. Vladimir Jurowski entfachte mit dem Staatsorchester authentisches wie stimmungsvolles Klangkolorit, motivierte zu feinen Solopassagen der überzeugenden Instrumentalsolisten. Ohne Krippe oder Weihnachtsbaum: gleichwohl eine herrliche Weihnachtsgeschichte mit Wärme und Verzeihen, dem Raum für Fantastisches, verzaubert von traumhaft schöner Musik!

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