Das Volk als graue, sensationsgeile Masse, der Klerus als bigotter Haufen und der Tod inmitten einer kargen Betonwüste – Optimismus oder Opulenz sucht man in Hans Neuenfels Inszenierung von Puccinis Manon Lescaut an der Bayerischen Staatsoper vergeblich. Doch genau dieser radikale Fokus auf das Wesentliche sorgt für den Reiz seiner Interpretation.
Verstärkt wird der Brennglas-Effekt durch die Lichtregie, die Stimmungen und Emotionen schlagartig zu verändern vermag. Zusätzlich verfasste der Regisseur kurze Texte, die während der Umbaupausen auf einen schwarzen Vorhang projiziert werden und einerseits dafür sorgen, dass die Handlung nachvollziehbar bleibt (denn Puccinis dramaturgischer Sprung von Le Havre in die Einöde Louisianas ist doch ein großer) und andererseits auch dafür wunderbar geeignet sind, das Publikum zu beschäftigen und vom kollektiven Zwischen-Akt-Husten abzuhalten.
Dass im Laufe der Jahre und mit zunehmenden Wiederaufnahmen kleine Details der Inszenierung verloren gehen, ist wohl unvermeidlich, aber dennoch schade. Denn während Manon am Ende des zweiten Akts nach ursprünglicher Vision des Regisseurs erhobenen Hauptes, festen Schrittes und umringt von Bogenschützen das Haus von Geronte verlässt – was beinahe schon provokant wirkt, aber ausgezeichnet zu diesem Charakter passt – erinnerte sie nun mit verschreckter Miene und geduckter Haltung eher an Bambi als an die selbstbewusste Manon.
Dabei hatte es Joyce El-Khoury zuvor ganz wunderbar geschafft, die kapriziöse Manon des zweiten Akts überzeugend zu verkörpern, wie sie überhaupt darstellerisch den Abend über eine starke Leistung brachte und die Wandlung der Figur vom schüchternen Mädchen über das arrogante Luxusgeschöpf bis hin zur bereuenden Frau glaubhaft nachzeichnete. Stimmlich hinterließ sie leider einen ambivalenteren Eindruck, denn obwohl ihr klarer, dunkel gefärbter Sopran über schöne Farben verfügt und insbesondere im vierten Akt viele Emotionen versprühte, wirkte die Stimme für die Rolle schlichtweg etwas zu klein und ließ dramatischen Aplomb vermissen.
Stark gelang es El-Khoury hingegen im gemeinsamen Zusammenspiel mit Saimir Pirgu, die ebenso leidenschaftliche wie toxische On-Off-Beziehung von Manon und Des Grieux zum Leben zu erwecken und auch die beiden Stimmen ergänzten sich in ihrem großen Duett schön. Überhaupt war das, was Pirgu an diesem Abend als Renato Des Grieux hören ließ, ganz großes Opernkino. Da strahlten die Höhen nur so in den Abend, die Stimme floss geschmeidig und zart schmelzend durch die Partie und kein Ton wurde jemals zum Selbstzweck, sondern unterstrich stets die emotionale Verfassung der Figur mit differenziert gemischten Klangfarben. Packend gestaltete er den Zwiespalt zwischen Liebe und Vernunft und ergreifend litt er im finalen Akt mit und um Manon.
Daniel Luis de Vicente gab hingegen einen relativ blassen Lescaut, den gewieften Intriganten nahm man ihm nicht so wirklich ab und auch stimmlich wäre mehr aus der Partie rauszuholen gewesen: denn obgleich sein warm timbrierter Bariton für schönen Klang sorgte, fehlte es der Interpretation an den Ecken und Kanten, an den düsteren Farben, die diesen zwielichtigen Charakter ausmachen. Ebenso rollendeckend, aber auch auf der unspektakulären Seite gestaltete Martin Snell den Geronte di Ravoir als in seinem Ego gekränkten alten, weißen Mann.
Mehr Eindruck hinterließ da schon der Edmondo von Granit Musliu, der einen mit reichlich Schmelz ausgestatteten, sonnig timbrierten Tenor hören ließ. Und auch Kelsey Lauritano konnte in ihrer kurzen Szene als Madrigal-Sängerin mit samtigem Mezzo starke Akzente setzen. Gleiches gilt für den Chor, der mit homogenem Klang und differenzierter Gestaltung die tragische Liebesgeschichte kommentierte.

Am Pult des Bayerischen Staatsorchesters stand mit Marco Armiliato ein verlässlicher Garant für Italianità und Sängerfreundlichkeit, wobei ihm an diesem Abend das Orchester hinsichtlich des großen Gefühls offenbar nicht so ganz folgen wollte. Denn so richtig wollte sich im Graben das Drama nicht entfalten – es wurde akkurat musiziert, keine Frage – aber den Zuckerguss des Leidens, den Puccini beispielsweise über die Streichersoli des Intermezzo gegossen hat, blieben die Musiker schuldig. Entfesselte emotionale Wucht bot die erste Aufführung dieser Vorstellungsserie also weder auf der Bühne noch im Orchester, aber zur Abwechslung ist es ja auch mal ganz nett, ein Opernhaus nach einem Abend mit Puccini nicht völlig verheult und mit zerstörtem Makeup zu verlassen.