Es ist kaum zu glauben: Die Wiener Philharmoniker feierten in diesem Jahr ihr Debüt beim Musikfest Berlin. Hatte Ehrenmitglied Christian Thielemann darum zwei erste Symphonien – Schumann und Bruckner – auf das Programm gesetzt?

Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann © Fabian Schellhorn
Wiener Philharmoniker unter Christian Thielemann
© Fabian Schellhorn

Eröffnet wurde das Konzert mit Robert Schumanns Frühlings-Symphonie, die Thielemann ausgesprochen enthusiastisch nahm, obwohl er das Orchester doch in dunklen Tönen die mächtige Eröffnungsfanfare spielen ließ. Alles blieb zunächst vage und wie im Status des noch Vorläufigen, und kam erst in der Exposition in der Gegenwart des Werkes an. Mit seinem großen Gespür nicht allein für den motivischen Zusammenhang, sondern auch den Gehalt der Symphonie, ließ er die Wiederkehr der Eröffnungsfanfare im vollen Orchester nicht allein einfach den großen Satz-Höhepunkt bilden, sondern brachte eine gelungene Integration des dem Hauptgeschehen des Werkes zunächst Externen zu Gehör, die als gelungen regelrecht gefeiert wurde.

Die mittleren Sätze nahm er als Intermezzi: filigran das Larghetto, etwas langsam und dadurch nicht allein graziös, sondern mitunter leicht behäbig das Scherzo, das allerdings seiner trotzigen Synkopen wegen doch überzeugen konnte. Das Finale ließ er wie einen ungestümen Kehraus ansetzen. Die Tonleiter mit der betonten Halben auf der falschen Taktzeit wurde zum Motor des Satzes und wechselte in der Durchführung zu geheimnisvoll raunenden Tönen, bevor es Thielemann am Schluss triumphal werden ließ. Stets aber klingt es weich und abgerundet; weder die Trompeten, noch die Posaunen schmettern.

Sehr überzeugend gelang diese Aufführung nicht zuletzt darum, weil Thielemann das Tempo im Sinne der Gestaltung an- oder zurückzog, was auch dann sinnvoll erschien, wenn es nicht in der Partitur vermerkt ist. Diese Darbietung war eine Werbung für den oft als zweitrangig angesehenen Symphoniker Schumann. Bruckner etwa bezeichnete diese Werke geringschätzig als „Symphonietten”.

Thielemann macht sich sehr verdient auch um die frühen Symphonien Anton Bruckners, die andere Dirigenten gerne unberücksichtigt beiseite lassen. Er wählte die spätere Wiener Fassung. Wie sorgfältig er das Orchester auf dieses Werk vorbereitete, ließ sich schon am marschartigen Hauptthema bewundern, dessen syntaktische Grobheiten er keineswegs nivellierte, sondern das Aufmüp­fige, Wider­bors­tige in ihnen hervorhob. Ganz in seinem Element war er und das phänomenal aufgelegte Orchester, als am Ende der Exposition unverhohlen die Tannhäuser-Ouvertüre auftrumpfte. Eine wahrlich „schöne Stelle“; denn sie kehrt nicht wieder.

Thielemann bevorzugt zwar stets den weich abgerundeten und ausbalancierten Klang, ließ sich aber nicht dazu hinreißen, die Ecken und Kanten der Symphonie zu glätten. Am Ende des Kopfsatzes hatte sich das Hauptthema endlich auch als solches durchgesetzt. In dieser Wucht dürfte die „negative Apotheose“ der Schlusstakte selten zu hören sein.

Geschmei­digkeit in der Tonge­bung herrschte auch im zweiten Satz nicht durchweg vor. Thielemann ließ das Orchester zu seinem Beginn in Gesten und Floskeln die Tonart suchen, bevor es sich in der „Gesangsperiode“ aussingen durfte. Im Scherzo kreiselten unter Thielemanns vehementer Stabführung die Motive zunächst um die eigene Achse. Das Tanzthema ließ er dagegen auf der Stelle treten.

Das Finale loderte in der Tat feurig in den Saal. Mitunter wurde es tumultuös! Thie­le­mann arbeitete nicht allein die Drama­turgie des Satzes auf den C‑Dur-Durch­bruch hin, sondern wandte sich mit Hingabe den verschrobenen Details der Partitur zu – etwa wenn er die Triller des zweiten Themas durch ständige Wiederholung zu einer schlicht bedrohlichen pulsierenden Grundfigur werden ließ.

Gerade in unseren Tagen haben es Traditionalisten wie Christian Thielemann schwer, weil ja alles modern klingen muss. Seine Ernsthaftigkeit und sein Respekt vor der großen Symphonik des 19. Jahrhunderts aber bewahrte die Aufführung beider Werke davor, lediglich perfekt abgerundete Homogenität zu präsentieren.

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