Nicht zufällig stand Max Regers Geistlicher Gesang Op.138 Nr. 1, „Der Mensch lebt und bestehet nur eine kleine Zeit“, am Anfang dieses Konzerts: Die Korrekturdruckfahnen des Werkes lagen im Leipziger Hotelzimmer, in welchem Reger am 11. Mai 1916 verstarb. Aufgeschlagen war dieser erste Chor. Die letzte Musik, mit der sich Reger vor seinem Tod befasste, eröffnete nun das „Trauer und Trost“ überschriebene Konzert in der Thomaskirche am 17. Juni 2016.
Der frisch gewählte Thomaskantor Gotthold Schwarz, der als Sänger und Dirigent seit jeher eine enge Verbindung zu Regers Vokalschaffen hat, bewegt sich hier auf vertrautem Terrain. Sehr innig, erfüllt, von innen heraus leuchtend, hebt der Thomanerchor zu singen an, verblüfft mit einem wunderbar tragenden Piano, überzeugt mit vorbildlicher Textbehandlung und differenzierter Gestaltung. Ein warmer, runder Chorklang, sehr homogen – wie schon beim Eröffnungskonzert des Bachfestes am 10. Juni präsentieren sich die jungen Sänger in bester Verfassung.
Johannes Brahms' Begräbnisgesang, Op.13 folgt. Zum Chor treten eine Bläserbesetzung und Pauken hinzu; die Männerstimmen beginnen, von den tiefen Bläsern begleitet: sehr dunkel, feierlich. Das Bläserzwischenspiel gerät sehr ausdrucksvoll; über den tiefen Stimmen erheben sich klagende Oboen. Eine Steigerung ins Tutti wirkt fast beängstigend; bedrohlich grollen die Pauken. Eine dichte, beklemmende Atmosphäre entsteht.
Darauf Max Regers Motette O Tod, wie bitter bist du (Op.110 Nr. 3). Nach dem vollen Bläsersound könnte ein Choreinsatz a cappella ein Risiko darstellen, nicht aber bei einem Chor dieser Qualität: Ein samtiger Bass, ein leuchtender Sopran, ein klangvoller Alt und ein strahlender Tenor lassen klanglich nichts vermissen. Schwarz’ Interpretation lässt die Bitternis zwar zum Ausdruck kommen, verzweifelt aber nicht in der Trauer, sondern wirkt getragen von der Zuversicht, dass etwas (Gutes) nachkomme, getragen also vom Glauben. So deutet schon der erste Teil der Motette auf die Aussage des zweiten Teils hin: „O Tod, wie wohl tust du“. Erstaunlich, wie die jungen Sänger diese tiefe Einsicht in Leben und Sterben glaubhaft vermitteln können.
In Regers Requiem für Alt, Chor und Orchester kommen schließlich die gesamte Staatskapelle Weimar und Mezzosopran Nicole Pieper zum Einsatz. Ein tiefes, dunkles Vibrieren, ein beängstigendes Pochen im Orchester vermitteln die Assoziation: Der Tod klopft an. Piepers sehr getragener, vibratoreicher Ton passt sich gut ein: „Seele, vergiss sie nicht, vergiss nicht die Toten!“, mahnt sie eindringlich; der folgende Choreinsatz schwebend, zart, gleichsam überirdisch. Ein erhabener Tutti-Aufschwung führt zur Schlusssequenz, die mit breitem, romantischen Klang bis zum einem Aufschrei im Forte führt, der verhalten ausklingt wie die Wiederholung der ernsthaften Mahnung aus einer nunmehr übergeordneten Warte.
Zum Abschluss erklang Bachs Kantate Ich hatte viel Bekümmernis, allerdings in einer romantischen Bearbeitung von Robert Franz, vermutlich aus dem Jahre 1868. Als man in der durch Mendelssohn angestoßenen Bach-Renaissance des 19. Jahrhunderts dessen Passionen und Kantaten wieder aufzuführen begann, wusste man wenig über die Aufführungspraxis der Bach-Zeit beziehungsweise glaubte, die Musik an den Geschmack des Hörers anpassen zu müssen. Spielanweisungen wurden eingefügt, das Instrumentarium um neue Instrumente wie die Klarinette erweitert, die Fagotte vom Continuo getrennt und die von Bach bewusst sparsam besetzten Arien um hinzu gefügte Mittelstimmen ergänzt. Den heutigen, wieder an die originale Gestalt gewöhnten Hörer verwirrt dies mitunter ein wenig. Davon abgesehen boten Julia Sophie Wagner, Nicole Pieper, Martin Lattke, Henryk Böhm sowie Thomanerchor und Staatskapelle Weimar unter Schwarz' Leitung eine wunderbar stimmige, beglückende Aufführung.
Die einleitende Sinfonia in getragenem Tempo greift den Trauergestus auf, trägt aber den Trost schon in sich, denn in den hohen Streichern und Bläsern blitzen Lichter der Hoffnung auf. Der Chor, in sehr bewegtem Tempo, bringt „Ich hatte viel Bekümmernis“ nicht als statische Klage, sondern als fließenden Prozess – hin zur Wendung „Deine Tröstungen erquicken meine Seele“. Auch die Sopran-Arie „Seufzer, Tränen, Kummer, Not“ verharrt nicht im Schmerz, sondern zeigt eher eine erstaunte Selbstreflexion. Das Duett Sopran/Seele-Bass/Jesus gerät zum erfüllten Liebesgesang mit herrlichen Verschlingungen, gipfelnd im absoluten Glück („Entweichet, ihr Sorgen, verschwinde, du Schmerze!“); der Chor („Sei nun wieder zufrieden, meine Seele“) fliegt mit zartem Flügelschlag vorüber – und trägt den Hörer mit sich in die Höhe. Mit strahlenden Trompeten zeigt der Schlusschor alle barocke Klangpracht, aber keinen hohlen Glanz, sondern einen, der von tief innen leuchtet. Wunderbar!