„Der Wassersturz, das Felsenriff durchbrausend, ihn schau' ich an mit wachsendem Entzücken. Von Sturz zu Sturzen wälzt er jetzt in tausend. Dann abertausend Strömen sich ergießend, hoch in die Lüfte Schaum an Schäume sausend.“ So lässt Goethe Faust im ersten Monolog des zweiten Teils sprechen, mit dem der Dichter 1797 seine große Tragödie fortsetzte. Als Vorlage des geschilderten Naturschauspiels diente der Rheinfall bei Schaffhausen, den Goethe in jenem Jahr das dritte Mal besucht hatte.

Patricia Kopatchinskaja © Marco Borggreve
Patricia Kopatchinskaja
© Marco Borggreve

Goethe, die Tragödie und der in der Romantik von beinahe sämtlichen Künstlern umgarnte Rhein bringt wieder einmal Schumann – allerdings nicht zu offensichtlich mit seiner „Rheinischen“ – und Brahms im weitergeführten und immer neu aufgelegten Zyklus Philippe Herreweghes spielerisch einfach zusammen, stürzte sich Schumann viereinhalb Monate nach seinem Violinkonzert in Bonn in den Rhein und versenkte Brahms dort, nachdem er Robert während dessen Instrumentierung kennenlernte, 1888 Liebesbriefe an Schumanns Gemahlin Clara. Seiner Clara hatte Robert wenige Monate vor Fertigstellung des Violinkonzerts 1853 übrigens die Ouvertüre zu Szenen aus Goethes Faust zum Geburtstag geschenkt; dreißig Jahre später sagte sie zu Brahms uraufgeführter Dritten Symphonie: „Welch Werk, welche Poesie“.

Diese drei Stücke lagen also auf den Pulten Herreweghes Orchestre des Champs-Élysées, das beim stARTfestival von Bayer Kultur sein letztes Saisonkonzert absolvierte. Und in dem zuverlässigst Gewohntes Hand in Hand ging mit doch einigen Überraschungen. So bestach einerseits Herreweghes Klangbild in vertrauter Wertschätzung wohldosierter oder vibratoloser, durchkontrollierter Artikulation und zudem historisch korrekter antiphoner Wiener Aufstellung durch überbordende, jede Schnulzigkeit ausmerzende Klarheit und Erhabenheit in vollausgereifter Balance der Orchesterstimmen, wobei diesmal die Pauke allerdings besonders effektvolle Akzente setzen durfte. Solche, die andererseits für Herreweghe-Verhältnisse in eine größere Portion Dramatik, einhergehende Kontrastfülle beim Lyrischen und insgesamt gar flottere Tempi eingebunden waren, die der Dirigent in der Ouvertüre zu Szenen aus Goethes Faust noch mit spärlichsten, dafür – nun ebenfalls unerwarteter – deutlichen Bewegungen am Pult begleitete.

Intensiver und damit in vertrauter Zusammenarbeit auf die neben ihm hüpfende, sich seitlich wiegende, aufstampfende Patricia Kopatchinskaja zumindest etwas abgestimmt geriet Herreweghes Zeichengebung in Schumanns Violinkonzert, in dem das noch klarere OCE eine hervorragende musikalische Partnerschaft mit der bei allem Affekt in körperlicher Bewegung unübersteigerten, dennoch bekannt extravagant genug agierenden Solistin einging. In dem gelang es Kopatchinskaja, die in den ersten beiden Sätzen liegende emotionale Essenz nervenzerreißender Rheinflucht und melancholischer Versunkenheit in bogenbetonender oder generell bogen- wie doppelgrifftechnischer Fertigkeit und dezenter bis wild-rüderer Saitenausdrücke individuell zu veranschaulichen.

Vor allem der langsame Satz mit dem senza-vibrato-Klangteppich des Orchesters unter der nachvollziehbar ermattenden, doch wegen der gleichfalls reinen Artikulation umso genuss- und wirkungsvolleren, romantikelementaren Träumerei der Sologeige erfuhr alle Vorzüge historisch-informierter Schlankheit. Entwickelte sich daraus im Finalsatz bei hintergründig aufkeimender sorgenreicher Sentimentalitätserinnerung ein freistrampelnder, optimistischer Tanz in vorzüglicher Phrasierung zu prächtiger Blüte, entsponn Kopatchinskaja wiederum aus der Legende zum Mittelsatz ihre von den stehenden Applausspendern erwartete Zugabe. Sollen Schumann die Geister Schuberts und Mendelssohns erschienen sein, sprachen laut Solistin heutige Engel auf Salvatore Sciarrinos Caprice Nr. 2 ein, der Kopatchinskaja mit den angehauchten Triller- und Steg-Griffbrett-Tremoli-Variationen eine atmosphärische Rechtfertigung verlieh.

Abgezockt wie sie, lebte das Orchestre des Champs-Élysées schließlich in Brahms‘ Dritter – zeitfortschreitend mit etwas mehr ausgewähltem Streichervibrato – die unverkennbare Kombination Herreweghe’scher und vom Komponisten durch Streicher und deren Aufstellung heraufbeschworener Wellennuancen sowie strenger chorischer Bläsersatzästhetik aus. Aufströmend und unter der Bedingung historisch die Sinne schärfender, nicht uferloser Spielweisen „frei“ sowie phrasierungsschicklich (auch insbesondere bei den Klarinetten) und daher bei aller Blech- und Paukenwucht kristallin mündete Brahms‘ Feierlichkeit und tiefe Würde – ausgehend von Goethes Faszination für den Rheinfall – symbolisch den Flusslauf folgend in einem Meer aus durchaus „durchbrausender“ Begeisterung und „wachsendem Entzücken“.

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