Pelléas et Mélisande, die einzige vollendete Oper von Claude Debussy, hatte in der Inszenierung von Marco Arturo Marelli an der Wiener Staatsoper bereits im Juni 2017 Premiere, brachte es aber bis zur aktuellen Wiederaufnahmeserie auf lediglich 9 Aufführungen. Die Welt ist mittlerweile eine andere, doch stellt man beim Wiedersehen mit diesem 1902 uraufgeführten Werk erstaunt fest, dass es zwischenzeitlich an Aktualität gewonnen hat.

Rolando Villazón (Pelléas) und Kate Lindsey (Mélisande) © Wiener Staatsoper | Michael Pöhn
Rolando Villazón (Pelléas) und Kate Lindsey (Mélisande)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Die erste Wiederaufnahmeserie im Oktober 2017 fiel mit dem Aufstieg der #metoo-Bewegung zusammen, und mit ihr rückten Missbrauch und Trauma ins öffentliche Bewusstsein, wurde vieles ans Tageslicht gebracht, über das bereits der Mantel des Schweigens und Vergessens gebreitet war. In Maurice Maeterlincks symbolistischen Schauspiel aus 1896, dessen Text Debussy für sein gleichnamiges Werk selbst adaptierte, kann man Mélisande als traumatisiertes Missbrauchsopfer in einer märchenhaften, aber düsteren Welt verstehen.

Der auf der Jagd verirrte Golaud trifft sie allein im Wald bei einem Brunnen an, wo ihre Krone, die sie von einem nicht näher identifiziertem „Er“ bekommen hat, in den Brunnen gefallen ist. Sie will sie nicht zurückhaben und nimmt schließlich Golauds Hilfe an, wohl „faute de mieux“ – in Ermangelung einer (besseren) Alternative. Im zweiten Bild erfahren Golauds Mutter Geneviève und sein Großvater Arkel auf Schloss Allemonde, dass die beiden geheiratet haben, doch schon im zweiten Akt wird ein anderes Schmuckstück in einem anderen Brunnen landen – im Beisein ihres Schwagers Pelléas spielt Mélisande mit Golauds Ring und verliert auch diesen.

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Simon Keenlyside (Golaud) und Kate Lindsey (Mélisande)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Auch diesen will sie nicht wiederfinden, denn die Suchexpedition, zu der Golaud seine schwangere Frau und seinen Halbbruder nötigt, führt beide zu einer Grotte mit elenden Gestalten, die es gar nicht bräuchte, um zu ahnen, dass sich eine unmögliche Liebe entwickelt, denn der eifersüchtige, bei Marelli von Alkohol zunehmend enthemmte Golaud kann den doppelten Betrug von Frau und Halbbruder nicht hinnehmen. Bevor er seine schwangere Frau an den Haaren reißt und zum Brudermörder wird, scheut er auch nicht davor zurück, seinen kleinen Sohn Yniold als Spitzel gegen die beiden zu missbrauchen – nur um zu erfahren, dass es nichts zu erfahren gibt. Auch als sie nach der Geburt ihrer Tochter sterbend im Kindbett liegt, interessiert ihn nur ihre Beziehung zu seinem Bruder.

Der Regisseur verortet die einfache, aber vielschichtig erzählte Handlung in schiefen Betonmauern und betont mit der von ihm eingeführten stummen Rolle von Pelléas krankem Vater die Tristesse des Werks, verzichtet aber gänzlich auf die Naturimpressionen des Librettos: weder werden die Hitze des zweiten Akts, noch der spätere Herbst spürbar. Wenn die Absicht war, die Ausweglosigkeit in dieser der Geschichte zu zeigen, ist das zumindest gelungen, doch beraubt man das Werk auch eines großen Teils seiner Symbolik (der Wald im Allgemeinen oder die im Libretto erwähnte Linde, die mit ihren herzförmigen Blättern für Liebe und Verbindung steht). Stattdessen wird auf Wasser gesetzt und ein Ruderboot durch das Stück geschleift, in dem Mélisandes Tod zur Überfahrt in eine zumindest farbenreichere Welt wird. Dieses Schlussbild tröstet über die eine oder andere Länge hinweg, die sich in den fifty shades of Dauergrau mitunter einstellen.

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Rolando Villazón (Pelléas) und Kate Lindsey (Mélisande)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

An der Besetzung liegt es mitnichten, denn diese liefert erstklassige Arbeit. Mit Spannung erwartet wurde natürlich der Auftritt von Rolando Villazón, der zuletzt 2014 ein Opernengagement auf dieser Bühne hatte und aus bekannten Gründen als Sänger kürzertritt. Ja, die Stimme hat gehalten und ist auch in der Baritonlage charaktervoll, allerdings vermisst man den früheren Glanz, und im Vergleich mit den übrigen Protagonisten ist Villazón leiser und dadurch mitunter weniger wortdeutlich. In dieser Oper, die fast durchwegs rezitativisch angelegt ist und Sprache und Musik verschmelzen lässt, könnte das ein Problem sein, doch sieht man bei Villazóns lebhafter Darstellung sogar als dezidiert Frankophile*r darüber hinweg, zumal er mit dem abgründigen Golaud von Sir Simon Keenlyside ein spannendes und natürlich sehr konträres Brüderpaar bildet.

Keenlyside wurde bereits in der Premierenserie hoch gelobt und hat immer noch nichts von seiner sängerischen und darstellerischen Strahlkraft verloren; der große Bogen vom Beschützer über den narzisstisch Gekränkten bis hin zum Mörder ist geradezu verblüffend. Nicht minder beeindruckend ist auch Kate Lindsey, der die Partie der Mélisande ganz besonders liegt. Sie ist als Perfektionistin bekannt, ebenso wortdeutlich wie Keenlyside, und verleiht ihrer Partie das geforderte märchenhafte Flair. Darstellerisch gefällt sie mit ihrer tänzerischen Bühnenpräsenz, und nicht nur von ihrem Sirenengesang beim Haarekämmen im dritten Akt hätte man sich gern länger verzaubern lassen.

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Pelléas et Mélisande
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Hervorragend komplettiert wurde die Besetzung von Jean Teitgen als greiser Arkel, der den Ton des Familienpatriarchen perfekt traf. Ebenso erfreulich geriet Hannah-Theres Weigls Yniold als passende Mischung von kindlicher Unschuld und Ungestüm – ein Gegenpol zu Zoryana Kushplers akzentschwerer und vibratoreicher Geneviève, Mutter des Brüderpaares. Alain Altinoglu und das Staatsopernorchester hielten das komplexe Stück mit seinen Rhythmuswechseln und schwebender Tonalität stets im Fluss und setzten dem Bühnenbeton impressionistische Farben entgegen – auch das macht die aktuelle Aufführungsserie für Liebhaber*innen der exotischeren Blumen im Opernrepertoire zum Pflichttermin.

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