Gründer und Leiter Hermann Max konzipierte für das Festival Alte Musik Knechtsteden in diesem Jahr ein Programm mit dem Titel „Visionäre – Bach & Mendelssohn“. Beide Giganten von Komponisten nahmen jeweils auf Vorhandenes und Bewährtes in der Musik Bezug und schufen neue Wegmarken in ihrer eigenen faszinierenden Tonsprache. Felix Mendelssohns Vorbild dabei war Johann Sebastian Bach selbst, sodass sinngemäß das Paulus-Oratorium den Abschluss der Festwoche in Dormagen bildet. Den Anfang dagegen lieferten Max und seine treuen Partner der Solistenriege, der Rheinischen Kantorei sowie natürlich dem Kleinen Konzert mit der h-Moll-Messe, die – zumal auch mittlerweile nicht ganz unstrittig, ob sie zu Bachs Lebzeiten nicht wenigstens doch einmal aufgeführt wurde – weiterhin größtenteils ein musikhistorisches Mysterium bleibt. Denn auch Visionen haben es an sich, dass sie neben der Frage nach dem Woher, Wann, Wie und Warum erst oder für immer schwierig zu fassen sind. Im besten und wohlwissenden Sinne stets verwunderlich beeindruckend, ob irdisch oder überirdisch, ist die zusammengesetzte Missa als Schluss- und Kulminationspunkt des kompositorischen Schaffens des bedeutendsten, möglicherweise längst auf „Abwegen“ befindlichen Thomaskantors allemal.
Dass diese sentimental ergreifenden Assoziationen von kraftspendendem Glauben, der positiven Auffahrt in der tröstlichen Überwindung des Leides, das verlässlich Berührende, jauchzend Festliche beziehungsweise die erzeugten Bilder, von denen Max im Vorwort sprach, bei der Aufführung etwas zu kurz kamen, lag hauptsächlich an der Tempowahl. 1992 – bei der Gründung des Festivals erklungen und auf CD aufgenommen – noch ziemlich visionär, deutete der Dirigent das Gratias (und wiederholend finale Dona nobis pacem) bereits alla breve, zu dessen Schluss es erst die kritische Carus-Edition der letzten Jahre brachte, auch das Sanctus in doppelter Geschwindigkeit zu nehmen. Nun sollten alle langsamen Chöre im nahezu halben Taktmaß belichtet werden, begonnen mit dem Kyrie, das weniger aus der erfassenden Sinnlichkeit heraus entwickelt wurde, als vielmehr dem drängend anrufenden Flehen dadurch Raum zu geben, dass starke Betonung in den Text hineinzog. So ansprachefördernd, mitnehmend, organisch und notwendigerweise aufführungspraktisch korrekt dieses Artikulations- und Phrasierungsmittel ist und war, so sehr zwang es mehr in ein Korsett, aus dem sich die schnellen, jubillierenden Sätze mit größerer Ausnahme des Et resurrexit nicht zu befreien vermochten. Eine neue Tiefe erreichte man damit ebensowenig.
Die abgrenzende Ekstase der überschwänglichen Freude und des Lobes nämlich ließen Cum sancto spiritu und Osanna folglich vermissen. Auch die Symbolum Nicenum-Sequenz blieb gänzlich zu nivelliert, als wollte man mit seinem Glaubensbekenntnis und den harmonischen Emotionen niemandem wehtun. Max selbst hatte ebenfalls in der geschriebenen Einleitung zum Konzert auf Kirnbergers „Die Kunst des reinen Satzes“ hingewiesen. Es darf bezweifelt werden, dass die Analyse der unterschiedlichen Notenwerte und Takte – gerade und speziell im metronomgerätlosen Barock – zu einer solchen Tempoangleichung führt, wie am Abend im Ergebnis geschehen. Denn damit ging ein Verlust an Kontrasten einher, die mit dem Einlassen auf die Geschwindigkeitsfrage somit an anderer Stelle umso schärfer generiert werden müssen. Beispielsweise mit der Dynamik, bei der sich jedoch leider zu viel im mezzoforte-Bereich abspielte, oder dem Abgrenzen von Staccato und Legato, was wesentlich besser gelang. Dabei war spürbar, dass der Chor oftmals gerne mehr von seinem Potenzial präsentieren wollte.
Welches durchweg solide, hohe Niveau natürlich die von Edzard Burchards einstudierte Rheinische Kantorei und das unter Konzertmeisterin Anne Röhrig auftretende Ensemble des Kleinen Konzerts beherrschen, mögen die zweifelsfreien Höhepunkte bescheinigen. Zum einen die wunderbar vorgetragenen Affektspitzen, besonders der weichen Soprane, in den himmlischen Windungen und Fugengeflechten des Kyrie, dessen Ungeduld heftigeres Gemeindebitten übersetzte; außerdem die sanften Flügel des Tenors im „et terra pax“-Gloria sowie die sprudelnde Überraschung und dringend ersehnte Auferstehung im Resurrexit-Wunder. Zum anderen die instrumentalen Verlockungen des vor allem streicherisch anziehend betonten Orchesters, von Susanne Regels Oboe d'amore, Michael Schmidt-Casdorffs florierend-überstrahlender Traversflöte, des virtuos-sicheren Corno da caccia Stephan Kattes und des präsenten, concerto-unterhaltenderen Fagottpaars Rovatkay/Kaufhold.
In den gesanglich solistischen Messsätzen überzeugten ausnahmslos Bass und Tenor. Felix Schwandtke verstand es, mit geschmeidiger Leichtigkeit und freudig-verschmitzter Lagenbeweglichkeit bis zu knackiger Tiefe für Fröhlichkeit, Schwung und effektsicherer Abwechslung zu sorgen, ohne im gesetzten Rahmen theatralisch herauszufallen. Tobias Hungers Tenor, dessen Haut-Contre-Bewandtnis sich für die sichere Führung und charmante Feder-Timbrierung von explizitem Vorteil erwies, konnte sich in aller (ab)geklärten Ruhe und Deklamationserfassung mustergültig einbringen. Von innerer Regung zeigten sich die sonoren Altpartien Margot Oitzingers, die die Betonungsakzentuierung und Klarheit füllend bewusst zu verdeutlichen wusste, selbst wenn das Agnus Dei etwas unfreiwillig im wirklichen Zwiespalt von schön Gelegtem und angestrengterem Überkommen stand. Die Soprane von Veronika Winter und Verena Gropper fühlten sich gut aufgehoben in ihren jeweiligen Duetten voller Artikulationsschnürung, verständlich und zusammenpassend, gar zum tieferen Farbton des Christe eleison. Trotz aller Einschmeichelung blieben die Höhen allerdings ein wenig matt.
Insgesamt also etwas blasse Farben wie – zumindest – passend zum Tintenfraß in Bachs Autograph, aber dennoch erhörte ich den schließlich noch durch die Kantorei kraftvoll sammelnden Ruf nach Frieden; Frieden mit dieser Aufführung von unangetasteten oder nur angetasteten Visionen der h-Moll-Messe.