Das Festival Alte Musik Knechtsteden und sein künstlerischer Leiter Hermann Max wären nicht das, was sie sind, wenn sie im Beethovenjahr nicht auch mit einem typischen Programmquerschnitt verlässlich das ineinander vernetzte Umfeld des großen Namens in ihr musikalisches Auge fassten. So tauchen heuer im Zuge bereits vormalig oder erstmalig beschrittener Pfade der rheinischen Kompositionsgeschichte die Erzeugnisse Christian Gottlieb Neefes sowie Johann und Ferdinand Ries' auf. In Beethovens Bonner Welt gesellte sich zudem der höchstinteressante Andrea Luchesi und die Beschäftigung mit Johann Philipp Kirnbergers Die Kunst des reinen Satzes. In Wien, wo er C.P.E. Bach lehrte, dessen Vater er bekanntlich so schätzte, befand er sich fortan in der prägenden Heimstätte Haydns, Mozarts, Salieris und Hummels, dessen Oratorium Der Durchzug durchs rote Meer auch schon durch hiesige Hallen zog. Das Kleine Konzert, Fortepianist Tobias Koch, Solisten und die Rheinische Kantorei kredenzten so mit Beethoven und seinem illustren Kreis kontextuierter Komponisten eine breitgefächerte Schnitzeljagd über erlesene Kostbarkeiten, die Einblick in Bibliothek und Biografie des Jubilars gewährte.
Dass diese Reise nahe eines kleinen musikalischen Marathons in Coronazeiten überhaupt stattfinden konnte, gleicht einem Wunder. Zwei Pausen (auch zur Gliederung des Programms) und die Bespielung von Vierung und Westapsis der Klosterbasilika in kleinster sowie wechselnder Besetzung ermöglichten die Aufrechterhaltung dieses Umfangs in einem Konzert, das gleichzeitig Umstände verdeutlichte, denen man auch im 18. Jahrhundert unterworfen war. Ausgangspunkt allen Denkens ist einer der Hauptvertreter dieser Zeit, Johann Sebastian Bach, dessen Christe eleison der A-Dur-Messe Beethoven in Kirnbergers oben genanntem Lehrbuch in die Hände fiel. Diesem Kyrie von einer Hälfte der Rheinischen Kantorei samt solistischen Streichern, zwei Traversflöten und Organum des Kleinen Konzerts gut geführten, dem Geltungsschein der Stimmen verschaffend interpretierten Satz, ließen die Musiker in erster Station das Crucifixus der h-Moll-Messe in aufbrechender Weise folgen, die den alten Kontrapunktstil etwas tiefenwirksamer hervorhob als in letzjährigem Toto. Mit der Fuga 22 à 5 aus dem Wohltemperierten Clavier wurden Bach und Beethoven direkt gegenübergestellt, indem Original- und lehrende Streichquintettfassung erklangen. Während Koch dem Graf-Hammerflügel bereits allerhand Farben und Akzente durch zärtlichere rechte und starke linke Hand entlockte, besonnen sich die Streicher auf ihren fülligeren, gebundeneren Ton, der allerdings ein wenig mehr artikulatorische und dynamische Reizgebungen vertragen hätte. In C.P.E Bachs Allegro moderato seiner dritten Sonate aus der Sammlung 1763 markierte Koch mit noch größerer Einfassung Bachsohn-typischer Merkmale von Akkorden, Bass-Sforzati, Trillern und harmonischen Kühnheiten einen besonders weisenden Richtpunkt.
Nächste Station bildete der Bonner Komponistenring aus Ries, Neefe und Luchesi, dem Auszüge aus Kirnbergers Erbarm dich, unser Gott vorausgingen, denen – nicht nur wegen seiner teils experimentelleren Harmonien – manchmal mehr Halt abseits kleinerer Ansatzprobleme bei ansonsten glänzendem Sopran und Alt gutgetan hätten. Zeigten sich die Stärken vor allem in den lauteren Aufgängen, untermauerte die Kantorei diese in den gesanglich betonten Öffnungen des Messabschnitts aus Johann Ries' Missa Sancti Huberti. Besagten Halt lieferten hier einerseits die stimmliche Präsenz, Klar- und Kultiviertheit Kerstin Dietls Soprans, der auch im Alma redemptoris mater gefiel, andererseits die Trompeten, die mit festlicher Pracht manche Intonations- und Kratzerschwächen der mühevollen Violinen überdeckten. Luchesis O Oriens bestach dagegen mit dramatischerem Stil, der hinführte zu einem Liedkomplex, bei Neefes Der Regen strömt, der Sturm ist erwacht eher zu einer theatralischen Minikammeroper für Klavier und Tenor. Hatte Andreas Post dort unter dem naturalistisch-wechselvollen Tastengewirke Kochs trotz heller, voluminöser, lyrisch-lieblicher Klasse kleine Eintrübungen, verzückte er mit Sicherheit als verliebter Sack-und-Pack-Schnürer in Ferdinand Ries' An die Erwählte neben lockendrehendem Hammerflügel sowie in Jüngling und Jäger. Der Finalsatz aus dem Klavierquintett, Op.74 brachte Ries hier als fulminanten Beethoven-Schüler näher, als Koch und – öfter an Intonation und Technik arg leidende – hohe Streicher im folkloristischen, dunkleren Rondo mit allerhand Melodieführung, Eingängigkeit, Verwilderung und überraschender Modernität herzaufgehende Momente erzeugten.
Mit Mozart zugeschriebener, wohl eher Luchesis Symphonie, KV97 gelangte man nach Wien und wurde ebenso abermals durch die solistische Streicherbesetzung (unter zusätzlichem Verzicht der Hörner) in die neugehörten, pragmatisch-laboratorischen, bei allem vom Orchester balancierten Klänge der damaligen Stuben gedrängt. Drängung herrschte außerdem bei Joseph Haydns Kanzonetten Treue und Wanderer, wobei Post in asketisch-melancholischer Versinkung ausgefuchster zu Werke ging als Dietl in der eigentlich launenhaften Pointierung ihrer Kleinode. Koch zeigte schließlich in Beethovens drängendem C-Dur-Rondo, Op.51 die zierliche und markige Varianz, die ihn zum herausragenden gedankenschärfenden Ideen-, Bild- und Textgeber à la Kompositeurgenie himself machte. Mit Salieris Salve regina war die Schlusssequenz eingeleitet, die aufführungspraktisch und im Hinblick auf die mottogebende Lichtwerdung der Nacht am besten gelang. Die feierliche Vertonung bot Beistand für den unter Kriegstrommelschlägen ergangenen, schwebend-schaudernden, von Post durchdringend gestalteten Ruf des Würgeengels aus Hummels lautmalerischem Drama, den Carsten Krüger einnehmend resolut heraufbeschworen hatte. Hummel selbst zog mit Beethovens kurzem, schmerzlichem Kanon Ars longa, vita brevis aus, ehe sein monströs flehendes Agnus Dei der C-Dur-Messe aus rohem, gewaltigem Dunkel in die leuchtende Hoffnung, den Schatz und Sinngehalt einer eben den guten Willen anerkennenden, noch guten Schnitzeljagd, führte.