Wenn eine Mozart-Oper funktioniert, verliert man jedes Gefühl für Zeit und Raum; man vergisst, dass man in einem Opernhaus sitzt, man weiß nicht, ob man lachen oder weinen soll. Sogar erfahrene Kritiker verlieren ihre Fähigkeit, zu evaluieren, werden von der Musik in eine andere Sphäre versetzt. Und das ist ganz entschieden, was in der neuen Produktion der Pariser Oper von Mozarts Entführung aus dem Serail geschehen ist, die nun in der goldenen Pracht des Palais Garnier gegeben wird.

Mozart, so scheint mir, war nicht fähig, eine wirklich reine Komödie zu schreiben. So mag auch die Entführung eine Vielzahl der komischen Standardelemente beinhalten – die Herren-Diener-Beziehungen, der düpierende alte Mann, sogar ein wenig Situationskomik – aber all diese Elemente werden kontinuierlich von Momenten höchster Emotion unterbrochen: die treue Konstanz der Konstanze (der Schlüssel liegt im Namen selbst), Selbstzweifel und tiefe Verzweiflung von ihrem geliebten Belmonte, brutale Gewalt und Wut von Bassa Selims aggressivem Diener Osmin, helle Freude von (beinahe) allen am Ende. Damit eine Inszenierung funktioniert, bedarf es einem Regisseur, der sehr sensibel für die wechselnden Stimmungen des Werkes ist, und der im Wechsel unterhalten und fesseln kann.

Regisseur Zabou Breitman und Bühnenbildner Jean-Marc Stehlé siedelten die Oper am Ende der Ära des Stummfilms der 1920er Jahre an: vom Beginn der Ouvertüre an sehen wir Projektionen und Texteinblendungen, die uns deutlich in dieser Zeit und dieser Ästhetik verankern. So wie Mozarts Musik nicht wirklich türkisch ist, sondern eine westliche Vorstellung von türkischer Musik, so ist Breitman und Stehlés Ort der Handlung hier ein türkischer Harem, wie man ihn sich vielleicht in Rudolf Valentinos Der Scheich vorgestellt hat. Und die Inszenierung ist glamourös gestaltet, mit viel Extravaganz und einem all-sehenden Auge fürs Detail. Der Rahmen von Selims Palast, geschmückt mit Bäumen und Kletterpflanzen, ist eine wahre Pracht. Seine Lage vor dem Meer und die Galeere, von der Selim herabsteigt, sind wunderschön gemacht. Die Bauchtänzerinnen führen echte Bauchtanzfiguren in Form einer Acht aus; wahrer Exotismus, nicht Pornographie. Das tägliche Leben im Harem – der alte Mann, der Shisha raucht, die tratschenden Waschfrauen, die Karten spielenden Musiker – ist liebevoll dargestellt; die Kostüme sind luxuriös. Und es gibt ein Trommelfeuer an visuellen Gags, viel zu viele, um sie hier alle zu nennen, manche davon bezogen den Dirigenten und das Orchester mit ein, aber es soll genügen zu erwähnen, dass sie erfinderisch und durch und durch unterhaltsam waren.

Beginnend als Kinderstar in der beliebten TV-Serie der 1960er, Thierra la Fronde, hatte Breitman eine glitzernde Bühnenkarriere als Bühnen- und Filmschauspielerin, hat sich in letzter Zeit der Regie von Film und Theater zugewandt. Ich habe Ihre Biographie durchforstet und konnte darin keine vorherige Oper finden. Wenn das stimmt, so ist ihre Leistung hier umso außergewöhnlicher. In jedem Falle freue ich mich darauf, mehr von Ihrer Arbeit zu sehen.

Das Orchester der Pariser Oper unter der Leitung von Philippe Jordan gab dem Publikum ganz genau, was man für den vollen Mozart-Transzendenz-Effekt braucht: Leichtigkeit, weiche Phrasierungen, subtile Variation in Tempo und Dynamik. Ihre Interpretation war technisch absolut goldrichtig: ausgezeichnetes Zusammenspiel, einwandfreie Intonation – eine beinahe makellose Orchesterleistung.

Mozart muss ein paar phantastische Sänger zur Verfügung gehabt haben, denn alle fünf Hauptrollen in Die Entführung aus dem Serail sind vertrackt schwierig. Erin Morley sang eine klangreine, filigrane Konstanze, ein klein wenig unsicher in den allerersten Koloraturen, doch im Laufe der Oper immer besser, bis das Publikum ihr bei ihren hochemotionalen Arien im zweiten Akt aus der Hand fraß. Bernard Richter als Belmonte gab uns ein warmes, offenes Timbre und meisterte Mozarts schwierige Phrasierungen gut, obwohl er bisweilen sein Legato verlor. Paul Schweinester lieferte gute Unterstützung und sehr gute Komik als sein Diener Pedrillo, während Lars Woldt einen Osmin zum Genießen sang, mit großem Bass, besonders voll und hinreißend in der mittleren und hohen Lage. In der tiefen Lage aber fehlte es ihm. Die Rolle des Osmin verlangt regelmäßiges Strecken bis zum Tiefen D (deutlich unterhalb der regulären Basslage), und Woldt fehlte die Überzeugung in den allertiefsten Tönen. In der Sprechrolle des Selim zeigte Jürgen Maurer eine solide Leistung.

Ihnen allen jedoch stahl Anna Prohaska als Kostanzes englische Gespielin Blondchen die Schau. Sie porträtierte Blondchens nüchterne Lebhaftigkeit und bewegte sich wundervoll, sowohl im Schauspiel als auch, wenn sie gerufen wurde, um zu tanzen. Ihre Stimme war immer felsenfest, immer lieblich und wackelte auch in den schwindelerregenden Höhen und Läufen nicht. Während ihre Kollegen glaubhaft sangen, war Prohaskas Darbietung eine, an die man sich noch lange erinnert.



Die Entführung aus dem Serail stand zuvor nicht auf der Liste meiner Mozart-Favoriten: die Handlung ist dünn, sie ist schwer zu singen, und die halb komische, halb ernste Natur des Werkes kann manchmal schwierig sein. Diese Inszenierung aber hat sie zu einem deutlichen Favoriten gemacht. Es war ein absolut magischer Opernnachmittag, der mich in Hochstimmung versetzt hat und mich im Kopf die Melodien singen ließ. Wenn Sie in Paris oder Umgebung wohnen – das dürfen Sie nicht verpassen.


Aus dem Englischen übertragen von Hedy Mühleck.

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