Das Hagen Quartett gibt seit Jahrzehnten Konzerte, die zu den bedeutendsten Darbietungen der Kammermusik gehören. Das liegt nicht allein daran, dass darin feinsinnig-geistreich musiziert wird, sondern dass es dem Ensemble gelingt, durch ihre Gewichtung in Haupt- und Nebensache, tatsächlich Einblicke in die Kompositionen freizulegen.

Hagen Quartett © Harald Hoffmann
Hagen Quartett
© Harald Hoffmann

Wenn Lukas Hagen zu Beginn von Haydns spätem B-Dur-Quartett seine Violine über dem ausgehaltenen Dreiklang der anderen drei Streicher eine anmutig vorzutragende Arabeske aufsteigen ließ, entstand nicht allein ein Klangzauber im sfumato, sondern darin wurden die Motive des Satzes vorbereitet. Veronika Hagen, die die Fäden von ihrer Mittelposition der Viola aus mit viel Blickkontakt nach rechts und links am gesamten Abend zusammenhielt, stellte danach nicht einfach eine Frage, sondern entwickelte diese aus einem Motiv, und selbst in der fast orchestral musizierten Überleitung wurde nicht allein brillant gespielt, sondern hörbar gemacht, dass in ihr ein Motiv aus der Arabeske beschleunigt und weitergetrieben wurde. Im zweiten Thema ließ dann Clemens Hagen in seinem Violoncello die Arabeske vom Beginn als freie Umkehrung des ersten Themas in die Tiefe sinken.

Das Adagio wurde als freie Fantasie über die fünf Töne entfaltet, aus denen die erste Choralzeile des Satzes gebildet wurde. Auch hier wurde im Schönklang die Form durchleuchtet. Das Menuett bildete einen burschikosen Kontrast dazu. Zu Beginn des Finales brachten Synkopen das Taktgefühl erheblich durcheinander, bevor in der Stretta in höchster Virtuosität alle Gestalten komplett zerstoben wurden.

Auch Ravels Quatuor a cordes wurde nicht allein als klangschöner Leckerbissen dargeboten, auch wenn die vielen Raffinessen in der Instrumentalbehandlung prächtig herausgespielt und ausgekostet wurden. Das zu Beginn exponierte „thème générateur“ wurde wie ein Kinderlied vorgetragen, sein pentatonisches Kopfmotiv im Lauf des ersten Satzes ständig transformiert, und dies nicht allein, um so ein Beziehungsnetz zu spannen, sondern um seine Geschichte nacherzählen zu können.

Die metrischen Komplikationen des Pizzicato-Themas, mit dem das Scherzo anhebt, wurden mühelos vorgetragen. Auch wenn nichts in seiner Thematik auf spanische Folklore hindeutet, atmete der Satz unten dem Zupfen und Klimpern der Hagens deren Aroma. Höhepunkt war die Darbietung des rhapsodisch angelegten langsamen Satzes, der wie eine Opernszene musiziert wurde. Die zu Beginn gestellten Fragen blieben unbeantwortet, dann sang Veronika Hagen eine berührende, mehrfach unterbrochene Klage-Arie. Gespenstisch tauchten traumatische Erinnerungen an das „thème générateur“ auf. Die Fragen vom Beginn wurden zwar intensiv wiederholt, ob aber die Schlusstakte wirklich eine Antwort auf sie geben sollen, ließen die Hagens offen.

Im heftig bewegten Finalsatz war zunächst alles dominiert von einem Fünftonmotiv, das den Rhythmus des Satzes vorbereiten sollte. Das im 3/4-Takt kaum noch identifizierbare „thème générateur“ wurde entstellt vorgetragen, und schließlich aus dem Werk verdrängt, so dass sich das zweite Thema aus dem Kopfsatz an seine Stelle setzen konnte. Mit großer Präzision und Phantasie gelang es dem Ensemble, als Ziel der Variation die Gestalt dieses Themas zu präsentieren, das sie in einen verspielt-leichtfüßigen Charakter verwandelt hatten.

Den Kopfsatz von Beethovens Streichquartett F-Dur musizierten die Hagens als ein Kaleidoskop, dessen Form erst im Vortrag zu entstehen schien, indem sie einander die Motive ständig weitergaben. Sie akzentuierten die Vorschlagstöne der Frageformel sehr intensiv und behielten dies im ganzen Satz bei.

Spätestens mit dem zweiten Satz war dem Quartett dann aller Klassizismus ausgetrieben. Zu seinem Beginn erklang ein um jede Melodik beraubtes Gehäuse, in dem drei Stimmen zusammentrafen, die kaum etwas miteinander zu tun hatten. Im Trio erreichte diese Entleerung aller Gestaltung ihren vorläufigen Höhepunkt, während Lukas Hagen in der Rolle des Spielmanns an der Drehleier außer Rand und Band geraten war.

Das Finale erklang gelöst. Dem Hauptthema wurde, alles mit dem „Es-muss-sein“ verbundene Pathos genommen; das Seitenthema als ein zwischen Ironie und gefasst-erinnerter Naivität angesiedeltes Kinderlied vorgetragen. Alles schien sich am Ende aufzulichten, bis zum Beginn der Coda die Töne des „Es-muss-sein“-Motivs wie jede Orientierung zueinander verloren zu haben schienen. Pause. Das Ensemble ruht auf einer Fermate und beschließt das in dieser Hinsicht wohl rührendste Quartett Beethovens mit dem erst in Pizzicatotupfern, dann gestrichen vorgetragenen Kinderlied.

In diesen wenigen Takten wurde dem konzentriert zuhörenden Publikum auch deutlich, wie einseitig unser Beethoven-Bild ist, das immer noch von dem Schicksal in den Rachen greifenden Titanen beherrscht ist. Am Schluss dieses Quartetts kämpft keiner, wütet keiner… da tritt einer ganz leise ab.

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