Als ich letzten Januar Pygmalions Debüt im Konzerthaus Dortmund beobachtete, wusste ich vor der Monate später erfolgten Veröffentlichung der Saison bereits, dass Raphaël Pichons Ensembles aus Chor und Orchester am Reformationstag selbigen Jahres dorthin zurückkehren würden. Und zwar mit Mozarts Requiem, das sie nach Dortmund für dieses Jahr ad acta legen konnten, befanden sich die Sänger und Instrumentalisten jetzt doch – zudem nach weiteren vorangegangenen Produktionen davorgelegener Aufführungsstrecken Romeo Castelluccis Theaterfassung – über einen Monat lang damit auf Tour und spielten es währenddessen in einer Aufnahmesitzung auch noch ein. Dass diese Voraussetzungen krönender, ja überwältigender Abschluss sein sollten, konnte ich jedoch nur der Erfahrung nach hoffen, allenfalls ahnen.

Raphaël Pichon © Piergab
Raphaël Pichon
© Piergab

Wie es Pichons Konzeptart ist, beließ er es für diese Tournee nicht beim Requiem in der Süssmayr-Fassung (nach neuester Analyse Paul Berdons habe es Süssmayr gar nicht vollendet, bloß transkribiert), außerdem mit „Amen“-Fragment des „Lacrimosa“-Appendix, sondern arrangierte es mit weitaus unbekannteren Vokalwerken Mozarts zu einer abendfüllenden Messe. Es waren solche, die gerade wegen der Magnetwirkung der Totenmesse als Schätze respektive Fülle alltäglicher Schreibereien einem größeren Publikum nähergebracht werden sollten, um das sonst allzu überlagernde, eingefahrene „Das kenn' ich“ über dem leicht abzustempelnden „Ach, das hat er auch mal komponiert“ in eine tonal und emotional perfekt passende wie kontrastvollere, ergreifende, klanggewaltige Dramaturgie zu fügen.

Dafür war auch eine besetzungstechnische Aufrüstung der Instrumente um Hörner und Klarinetten, wenn eben nicht die üblichen Bassetthörner spielten, sowie um ein Kontrafagott nötig. Sie waren es auch, die tiefgehend und eindringlich, zusammen mit den Streichern sehr mächtig, die erhabene Urversion der Maurerischen Trauermusik für Orchester und Männerchor (eigentlich eine Logenhymne, genannt Meistermusik) anstimmten. Alles eingeleitet hatte aber der traditionelle Beerdigungsantiphon In paradisum, den Knabensopran Chadi Lazreq vom ersten linken Balkon pur und in schüchtern-zerbrechlicher Herzlichkeit intonierte. Er wiederholte diesen zum Ende des Requiems gemeinsam mit den als Echotransmittern an der Bühnenwand rücklings zum Publikum aufgestellten Chorsopranen, um der Liturgie den kreislaufsymbolisierenden Trostrahmen der engelsempfangenden Auffahrt ins himmlische Friedensreich zu geben.

Übernahm das hervorragende Solistenquartett aus Ying Fang, Beth Taylor, Laurence Kilsby und Nahuel di Pierro den Gebetsstaffelstab Lazreqs mit dem flüchtig-schlanken a-capella-Doppelkanon Ach, zu kurz, startete Pygmalion einen ersten Kyrie-Anruf in d-moll mit dem Miserere mei, KV90, dessen zupackende, schicksalsgreifende, standhafte, gerade und feierliche Wucht den Grundton des gesamten dramatischen Requiems bildete. Darüberhinaus eines extrem schnellen, folgte mit der eigentlichen „Kyrie“-Fuge nach dem „Introitus“ eines der rasanten Musterbeispiele aus rabiater Exaktheit oder der höchst künstlerischen Zweifachfunktionalität hämmernder wie filigraner Ewigkeitsgravur. Äußerst unerbittlich, straff, inbrünstig und energisch geriet natürlich auch die „Dies irae“-Sequenz, in deren „Tuba mirum“ die recht kernigen, würzigen Solisten, allen voran deklamantionsstarken Taylor und Kilsby, unter Tenorposaunist Stéphane Muller erneut – wie später in „Recordare“, „Domine Jesu Christe“ und „Benedictus“ – ihre empathische, lebendige, stilistische Ensembleklasse demonstrierten.

Ihr theatralisch geheimnisvoll und einbläuend voraus ging mit Commendatore-Gepräge Di Pierros die später in Thamos wiederverwertete beziehungsweise nachher geistlich parodierte Szene für Solist, Chor und Orchester Ne pulvis et cinis, während Lazreq mit blitzsauberen Höhen und beachtlicher Oktavtechnik im Solfeggio in F gen Himmel brillierte. Nach dem abrupt abbrechenden „Amen“ des tränentropfenden, marschigen „Lacrimosa“ wurde der festliche „Offertorium“-Part vom Chorsatz Quis te comprehendat mit fabelhaftem Oboen- und Klarinetteneinsatz Gabriel Pidoux' und Nicola Bouds sowie vom Choral O Gotteslamm umschlossen. In letzterem gab zunächst Taylor zwar mit reichlich Vibrato, aber dennoch großer Deutlichkeit, besonders farblich überragender Wort-Ton-Gestaltung die Strophen vor; der nach den ganzen Strapazen erstaunlich und bewundernswert immerwache Chor hängte sich in dynamischer Entwicklung daran und beendete das Requiem mit „Agnus Dei“ und „Communio“ voller Kraft und Würde. Das bisher beste Mozart-Requiem, das ich je gehört habe. Eine andächtige Schweigeminute des Publikums danach, die sich letztlich in langanhaltende stehende Ovationen wandelte, sprach gleichgesinnte Bände.

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