Ein Mann kommt über den frühen Tod seiner Ehefrau nicht hinweg. Er verwandelt sein Haus in eine Gedenkstätte und lebt nur noch in der Vergangenheit. Da taucht eine Frau aus Fleisch und Blut auf, eine Tänzerin, die der Verstorbenen aufs Haar gleicht. Sie könnte für den Mann dazu dienen, die tote Gattin wieder in das Leben zurückzuholen. Doch die Tänzerin hat ihre eigenen Ansprüche. Kann das zu einem guten Ende führen? Dies ist die Ausgangslage in Erich Wolfgang Korngolds Oper Die tote Stadt.

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Eric Cutler (Paul) und Statistin (Marie)
© Monika Rittershaus

Das Libretto hat der Komponist zusammen mit seinem Vater nach dem Roman Bruges-la-morte von Georges Rodenbach verfasst. Die Oper ist der Geniestreich eines Frühreifen, der bereits mit 23 Jahren so berühmt war, dass die Opernhäuser sich um die Uraufführung rissen. 1934 erwirkten die Nazis wegen der jüdischen Herkunft Korngolds ein Aufführungsverbot des Werks. Der Komponist wanderte in die USA aus und feierte in Hollywood als Filmkomponist große Erfolge. Bei seiner Rückkehr nach Europa gelang ihm kein wirkliches Comeback. Seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gab zuerst vereinzelte, später immer mehr Versuche zur Rehabilitierung der Toten Stadt. Bis heute ist es aber ein Ereignis, wenn ein Opernhaus das Werk auf den Spielplan setzt.

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Eric Cutler (Paul) und Vida Miknevičiūtė (Marietta)
© Monika Rittershaus

Das Opernhaus Zürich wagte eine Neuproduktion mit dem jungen Schweizer Dirigenten Lorenzo Viotti, dem bestandenen Regisseur Dmitri Tcherniakov und einem hervorragenden Protagonistenpaar. Nach der erfolgreichen Premiere vom Ostermontag muss man sich fragen, warum Die tote Stadt nicht längst zum Repertoire der großen Häuer zählt.

In einer vordergründigen Lesart der Geschichte geht es um den Wiederholungszwang: Paul sucht nach einer Frau, die seiner verstorbenen Gattin Marie gleicht, und findet sie in Marietta. Doch Tcherniakov setzt in seiner Deutung woanders an: Paul ist hier ein brutaler Macho, der eine beliebige Frau sucht, bei der er seine Verhaltensmuster, die seine Ehefrau in den Tod getrieben haben, erneut anwenden kann. Bevor die Philharmonia Zürich mit dem Vorspiel beginnt, spielt sich im Salon von Pauls Wohnung eine aufschlussreiche Szene zwischen ihm und Marie (Statistenrolle) ab. Paul doziert, jede Frau suche die Unterwerfung unter den Mann, und man erfährt, dass Marie sich aus dem Fenster gestürzt hat, um dieser Ehehölle zu entgehen. Später liegt sie als Leiche, mit einem Tuch zugedeckt, auf dem Tisch des Salons.

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Eric Cutler (Paul) und Vida Miknevičiūtė (Marietta)
© Monika Rittershaus

Den Blickfang der Zürcher Neuinszenierung bietet die ebenfalls von Tcherniakov verantwortete Bühnenarchitektur. Das Publikum blickt auf eine dunkelgraue Hausfassade, die nicht auf der Bühne abgestützt, sondern am Schnürboden aufgehängt ist. Im ersten Stock befindet sich Pauls Wohnung, deren Zimmer durch große Fenster einsehbar sind. Unterhalb der Fassade ist die leere Drehbühne vor einer weißen Rückwand zu sehen.

Vida Miknevičiūtė (Marietta) © Monika Rittershaus
Vida Miknevičiūtė (Marietta)
© Monika Rittershaus

Oben spielen sich gewissermaßen die Todesszenen ab, unten ereignet sich das Leben. Letzteres wird insbesondere durch die Szenen des zweiten Akts verkörpert, wo Marietta sich, zusammen mit ihrer rollschuhfahrenden Theatertruppe, in einer pulsierenden Gegenwelt bewegt. Die Handlung ereignet sich nicht im Brügge des späten 19. Jahrhunderts, sondern in der heutigen Zeit. Elena Zaytseva steckt Paul in Anzug und Krawatte, wenn er Marietta bei der ersten Begegnung Eindruck machen will. Diese sieht, passend zum Regiekonzept, Marie überhaupt nicht ähnlich, und tritt in jedem der drei Akte in einem überraschend neuen Outfit auf.

Dass der renommierte Tenor Eric Cutler, den man in Zürich als Siegmund in Andreas Homokis Ring-Inszenierung kennt, hier als Paul sein Rollendebüt abgibt, kann man kaum glauben. Denn die facettenreiche Art, wie er den unsympathischen, gewalttätigen, aber auch bemitleidenswerten und liebessehnsüchtigen „Helden“ darstellt, ist großartig. Hinzu kommt, dass sein Part extrem schwierig zu singen ist und dass die Figur praktisch während der ganzen Aufführung auf der Bühne steht.

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Björn Bürger (Frank) und Evelyn Herlitzius (Brigitta)
© Monika Rittershaus

Kongenial zur Seite steht ihm Vida Miknevičiūtė als Marietta. Die Litauerin, die auch Salome oder Brünnhilde in ihrem Repertoire hat, zeigt sich als beeindruckende Powerfrau und Verwandlungskünstlerin, die Paul mit ihrem stimmgewaltigen Sopran mächtig einheizt. Auch die Nebenrollen sind gut besetzt. Pauls Freund Frank (Björn Bürger) wächst zu einem bedrohlichen Rivalen heran, der ebenfalls um die Gunst Mariettas buhlt. Und die Haushälterin Brigitta (Evelyn Herlitzius) erscheint als ernste Mahnerin, welche die Zeit zurückdrehen möchte. Komödiantischen Zuschnitt haben die Figuren der Tanztruppe.

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Eric Cutler (Paul) und Vida Miknevičiūtė (Marietta)
© Monika Rittershaus

Die musikalische Sprache der Toten Stadt schwankt zwischen opulenter Spätromantik und aufkeimender Moderne, zwischen Epigonalem und Eigenständigem. Das 1920 uraufgeführte Werk lässt Einflüsse von Zemlinsky, Richard Strauss, Wagner, Puccini und der Zweiten Wiener Schule erkennen. Korngolds eigene Handschrift tritt etwa in den bedrohlichen Unisolo-Melodien, der gelegentlich auftretenden Bitonalität, den durch Harfe, Glockenspiel und Celesta hervorgerufenen sphärischen Klängen oder im Flageolett-Flimmern der hohen Violinstimmen zutage. Viotti, gegenwärtig Chefdirigent des Netherlands Philharmonic Orchestra und der Dutch National Opera, war es, der den Vorschlag für diese Korngold-Oper gemacht hat. Die Begeisterung des Dirigenten überträgt sich hörbar auf das Orchester, das die unterschiedlichen Klangfarben und Stimmungen der Partitur wirkungsvoll zum Erklingen bringt. Der Instrumentalpart wird dabei zum Psychogramm der Figuren auf der Bühne.

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Eric Cutler (Paul) und Vida Miknevičiūtė (Marietta)
© Monika Rittershaus

Wenn Paul im dritten Akt eine vorüberziehende Fronleichnams-Prozession beobachtet, verkleidet er sich selber als Bischof und erhebt seinen Krummstab drohend wie einen Speer. Als dann Marietta die Haarperücke und den Schal Maries aus dem Fenster wirft, kann sich Paul nicht mehr zurückhalten und erdrosselt sie.

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