Für einmal hatte das Allerweltsmotto „Neugier” unter dem das diesjährige Lucerne Festival steht, seine Berechtigung. Auf den ersten Blick machte zwar das Programm mit einem Mozart-Klavierkonzert und einer Bruckner-Symphonie nicht gerade neugierig. „Kennen wir doch alles”, mochte sich da der Connaisseur sagen. Fehlanzeige. Mozarts Klavierkonzert in C-Dur, KV 503 ist innerhalb dieser Gattung eines der selten gespielten. Und Bruckners Symphonie Nr. 6 in A-Dur gilt unter den neun Symphonien des Meisters als sein Stiefkind.

Andris Nelsons © Patrick Hurlimann | Lucerne Festival
Andris Nelsons
© Patrick Hurlimann | Lucerne Festival

Dass Andris Nelsons mit seinem Gewandhausorchester Leipzig gerade mit diesen beiden unpopulären Kompositionen nach Luzern reiste, ist bemerkenswert. Und hat, muss man im Nachgang sagen, einen Gewinn betreffend Repertoirekenntnis gebracht. Im Fall des Mozart-Konzerts bestand der Lockvogel zusätzlich darin, dass der Solopart von Daniil Trifonov gespielt wurde, der im vergangenen Sommer in Luzern als Artiste étoile gepunktet hatte. Trifonov, der unter anderem für seine virtuosen Interpretationen von Rachmaninow oder Chopin bekannt ist, stand hier vor einer ganz anderen Herausforderung.

Man bemerkte staunend, dass der Alleskönner auch bei Mozart den richtigen Ton traf. In allen drei Sätzen zeigte er eine beeindruckende Sensibilität des Spiels und ein waches Ohr für das orchestrale Geschehen um ihn herum. Und man realisierte, dass die Qualität dieses C-Dur-Konzerts gerade im raffinierten Wechselspiel zwischen Solo und Tutti, weniger aber in einprägsamen Themen liegt. Der zweite Satz beispielsweise geriet zu einer geistreichen kammermusikalischen Auseinandersetzung zwischen den Bläsern des Orchesters und dem Klavier.

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Daniil Trifonov
© Patrick Hurlimann | Lucerne Festival

Die anschliessende Symphonie diente als Geburtstagshuldigung für Anton Bruckner, der an diesem Mittwoch auf den Tag genau vor 200 Jahren in Oberösterreich das Licht der Welt erblickt hatte. Das Gewandhausorchester eignete sich als Gratulant in besonderer Weise, hatte es doch 1884 mit der Uraufführung der Siebenten Symphonie unter Arthur Nikisch den Grundstein für die internationale Beachtung Bruckners als Symphoniker gelegt. Und Nelsons ist einer der in heutiger Zeit massgebenden Bruckner-Exegeten, seitdem er mit dem Gewandhausorchester in Hinblick auf das Jubiläumsjahr einen Bruckner-Zyklus eingespielt hat.

Die Sechste ist die kürzeste, die am wenigsten fassliche und die kaum mit mystischem Überbau befrachtete unter Bruckners Symphonien. (Letzteres hat der Meister in den Symphonien Sieben, Acht und Neun dann ausgiebig umgesetzt.) Von diesen drei Merkmalen leitete Nelsons seine Interpretation ab. Er deutete sie als kompaktes, vielschichtiges und ganz diesseitiges Klanggebilde. Dies gilt insbesondere für den ersten, dritten und vierten Satz, während sich im Adagio, das gewissermassen die Vorstufe für den langsamen Satz des Siebenten Symphonie bildet, dann doch ein unerwarteter Mystizismus einschlich. In allen Sätzen zeigte sich Nelsons als Architekt, der stets die Übersicht behielt und die unterschiedlich gearteten Formteile gegeneinander ausspielte. Einheit in der Vielfalt – so könnte man das formulieren. Was die Vielfalt, und damit verbunden die geringe Fasslichkeit der Sechsten betrifft, bildete gerade der Schlusssatz ein Paradebeispiel.

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Andris Nelsons dirigiert das Gewandhausorchester Leipzig
© Patrick Hurlimann | Lucerne Festival

Er beginnt nicht mit einem markanten Thema, sondern mit einem synkopisch ansetzenden und etwas konturlos absteigenden Motiv. Nach dem durchaus einprägsamen Hauptthema folgt eine Vielzahl von Themen und Motiven, die man kaum nachsingen kann und die im Gedächtnis nicht haften bleiben. Nelsons gestaltete diese Struktur als eine Reise durch unwegsame Klanglandschaften, um dann zum Schluss doch noch auf die breite Hauptstrasse einzubiegen, wo das strahlende Hauptthema mit dem Hauptthema des ersten Satzes kombiniert wird.

In seinen „wilden” Jahren, als er noch Chef des City of Birmingham Symphony Orchestra war, ist Nelsons als impulsiver, ungestümer Dirigent aufgetreten, der die Musiker mit ausladenden Armbewegungen anfeuerte. Heutzutage leitet Nelsons nicht nur das Gewandhausorchester, sondern auch das Boston Symphony Orchestra. Und er hat sich inzwischen zu einer reiferen, magistral wirkenden Persönlichkeit gewandelt. Einem Bruckner-Dirigenten steht dies gut an.

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