Novemberblues, Verzweiflung an der Weltpolitik, Vitamin-D-Mangel? Um die Laune zu heben, empfiehlt sich ein Besuch von Falstaff an der Wiener Staatsoper, denn die wieder aufgenommene Inszenierung von Marco Arturo Marelli bringt ein paar metaphorische Sonnenstrahlen ins hochnebelgeplagte Wien.

Die besprochene Vorstellung fand am 11. September statt, der hierzulande für den Faschingsbeginn und neuerdings auch für den Welt Singles Tag steht – wie passend für diese Komödie nach Shakespeare’s The Merry Wives of Windsor sowie Ausschnitten aus Henry IV, in der sich der vormals edle Ritter Falstaff eine ganz unedle Figur angefressen und -gesoffen hat. Da das Vermögen verprasst ist, Genussmenschen ihre Triebe aber auch abseits der Kulinarik befriedigen wollen, soll das Nützliche mit dem Angenehmen verbunden werden, und mit gleich zwei vermögenden, aber verheirateten Damen angebandelt werden – was natürlich gehörig schiefgeht, weil Falstaff nicht mit dem Mutterwitz der beiden gerechnet hat.
Die eine, Alice Ford, nützt die Gelegenheit gleich auch dazu, nicht nur Falstaff, sondern auch ihrem eifersüchtigen Ehemann eine Lektion zu erteilen, und die gemeinsame Tochter Nannetta mit dem armen Fenton statt mit dem hölzernen Dr. Cajus zu verheiraten. Das ergibt einen großen Showdown zur Geisterstunde im Park von Windsor und ein komplexes Fugenfinale für Verdis letzte Oper (1893), in der es keine Ohrwurm-Arien mehr gibt, sondern die von leichtfüßigem Parlando mit ernsten Untertönen lebt.
Dadurch wird sie auch Shakespeare’s Weisheiten gerecht, die sich durch Schauspiel und Musik transportieren. Für das bekannte Fazit „Tutto nel mondo è burla“ (Alles auf der Welt ist Spaß) bräuchte es da gar keine Plakate, wie man sie aktuell wieder zu sehen bekommt. Warum man die klassisch-hübsche David McVicar-Produktion aus 2016 nach nur 13 Vorstellungen durch die 13 Jahre ältere Regiearbeit des am Haus oft beschäftigten Marco Arturo Marelli ersetzt, erschließt sich nicht unbedingt, allerdings ist es begrüßenswert, dass die jüngeren Opernliebhaber*innen der Stadt in den Genuss verschiedener Inszenierungen kommen, um ein Werk besser kennenzulernen, oder auch einfach nur der Abwechslung willen. Jedenfalls gibt es keinen Grund, das Entstehungsjahr 2003 im Impressum zu verstecken.
Marellis Auseinandersetzung mit Falstaff (die weit besser gelungen ist als jene mit der zuletzt gezeigten Debussy-Oper Pelléas et Mélisande), zelebriert jedenfalls das italienische „burla“ (also Jux, Scherz, Schwank, Spaß) und zeigt die Welt von Falstaff und seiner weinseligen Entourage im Wirtshaus zum Hosenband als orange-bunten Bretterverschlag, der sich aus dem Bühnenboden hebt. Unten wohnen also die Zwielichtigen mit ihrem Klumpert, darüber befindet sich die aufgeräumte, ziemlich leere Welt der „besseren“ Leute, in der die kalten Farben dominieren. Dieses Konzept ist auch in den Kostümen von Dagmar Niefind stringent umgesetzt, denn die „Unteren“ tragen Patchwork- und Harlekin-inspirierte Kostüme in warmen Farben, während die Fords sehr elegant in Blau und Meg Page in Grün auftreten. Mrs. Quickly, die Vermittlerin zwischen beiden Welten, trägt konsequenterweise Lila, also eine Mischung aus Rot und Blau. Damit sind die Figuren klar und mit hohem Wiedererkennungswert gezeichnet. Überraschend simpel fällt dagegen das Finale aus, in der die kostümierten „Geister“ uniform in Weiß mit Spitzhüten auftreten. Es gibt viele, mitunter auch banale Gags, etwa wenn Mrs. Quickly ihre Handtasche oder Falstaff seinen Bauch zu leichten Waffen umfunktionieren, aber sie wirken immer noch und halten die Geschichte am Laufen.
Ambrogio Maestri hat Falstaff zu seiner Leibrolle gemacht und zieht alle stimmlichen und darstellerischen Register zwischen großspurigen Ambitionen und Selbstmitleid. Als eingebildeter Frauenheld einerseits und Opfer von Fat- und Age-Shaming andererseits ist Falstaff natürlich – abseits der gesanglichen Herausforderungen – auch eine sehr dankbare Partie, und Maestri (auch privat ein deklarierter Genussmensch) zeigt ihn als Inbegriff der Lebensfreude: Selbstbewusst pfeift dieser Falstaff auf die Ehre, steht zu seinen (missglückten) Eroberungsversuchen und lässt bis zum Schluss die Hoffnung über (schlechte) Erfahrungen siegen.
Demgegenüber kann Attila Mokus als Biedermann Ford nicht ganz mithalten, denn hinter der bürgerlichen Fassade dieser Figur, die Falstaff um Rat um Liebesglück mit der eigenen Holden bittet, sollte man zumindest ein wenig Chuzpe und Hintergründigkeit ahnen; dazu wirkte er aber, die Gesangsleistung inklusive, etwas zu starr. Überzeugend gelang ihm hingegen die moralische Empörung, die er mit Thomas Ebensteins besserwisserischem Dr. Cajus teilte. Iván Ayon Rivas gab den männlichen Teil des jungen Liebespaares mit Verve, jedoch stimmlich nicht immer ausgewogen, während Emily Pogorelc eine jugendlich-strahlende Nannetta hören ließ.
Als Alice Ford, ihre Bühnenmutter und Objekt von Falstaffs Begierde, bildete Ruzan Mantashyan mit einer in jeder Hinsicht mitreißenden Leistung den weiblichen Mittelpunkt des Geschehens, auch wenn (oder eher: weil) sie öfters eine Königin denn eine schlagfertige Bürgersfrau spielte. Auch eine Sängerin, die Mrs. Quickly besser porträtiert als Monika Bohinec, die mit Spielwitz und tiefen Tönen gleichermaßen beeindruckt, wird man schwer finden. Alma Neuhaus (Meg Page) komplettierte das Damenglückskleeblatt bestens. Viel Beifall daher für alle Beteiligten, sehr verdient auch für Pier Giorgio Morandi am Pult. Er hielt alles gleichermaßen im Fluss wie in Ordnung und ließ die von Marelli auf die Musik geschriebenen Gags immer punktgenau landen. Reverenza!
