Der Versuch, Johann Sebastian Bachs Musik auch nur ansatzweise zu verstehen zu gedenken und dabei von allzu steifer Gelehrsamkeit zu entschlacken oder überhaupt virtuos, leicht wie bedeutend zu spielen, geht einher mit dem stetig aufs Neue getriggerten baffen Erstaunen über die Genialität seines Schaffens. Vor allem befällt sie mich jedenfalls in den wie auch immer nachbearbeiteten Konzerten für mehrere Cembali, in der das Ausgestalten, Rhythmisieren und Zusammenbringen der nähmaschinengleich gesetzten Melodie- und Solokoloraturen der modischen Tastenentwürfe von eigens hilf- und heilloser Überforderung zu überschwänglichem Glücksgefühl des Aufsicheinwirkens von schönster Komplexität führt. Bei der zwanzigjährigen Jubiläumsausgabe des Stockholm Early Music Festival war es an Claudio Ribeiros gerade selbst fünfzehnjähriges Bestehen feierndem Ensemble New Collegium mit seinem Leiter an einem Cembalo und den Kollegen an den anderen Counterparts, diesen Zustand erneut hervorzurufen.
In überwiegender Entsprechung taten sie dies im Hauptveranstaltungsort des Fests, der wunderbaren (früh-)barocken Deutschen Kirche der malerischen Stockholmer Altstadt Gamla Stan, in der Beeindrucktsein quasi zu Hause ist. Dezent, elegant, weich und elastisch sowie mit nötiger Einsatzklarheit und rhythmischen Akzenten begann darin zur Eröffnung mit dem Konzert BWV1064 die solistische Streicherbegleitung, aus der die drei Cembalostimmen von Ribeiro, Jacques Ogg und João Rival mit ihren sprudelnden Trillern und Mordenten aufstiegen. Wie später bei allen ausgewählten Stücken, die im ersten Satz – wenn nicht doch nachträglich mit Allegro überschrieben – übrigens original ohne Tempobezeichnung notiert sind, entschied sich Ribeiro bei eben diesen Einstiegssätzen für eine gemütlich-beruhigendere Zählart gemäß 4/4-Takt, die den Effekt hatte, den Mittelteil eines jeweiligen Konzerts – ob allein für Cembali oder nicht – berührend und den Schluss dramaturgisch gesteigert wahrzunehmen. Im C-Dur-Concerto machte sich dies durch ein ausdrucksstärkeres Adagio gefolgt von einem flotten Allegro bemerkbar, in dem die Tasteninstrumente (mit kleineren technisch-rhythmischen Einschränkungen bei Rival) ihre Timbres und vermehrten Verzierungen und Figuren synchronisierten wie hervorbrachten, zu denen das Orchester strukturell ankommender in präsentere Klangerscheinung trat.
Das Ensemble-Accompagnato erwies sich auch im zweiten C-Dur-Beispiel des BWV1061 mit dem vom Charakter leichtfüßig wie körnig und verspielt ausgewechselten Kopfsatz als akkurater Farbsetzer, während es im Adagio ovvero Largo vorschriftsmäßig schwieg. Dort entwickelten Rival und Aljosja Mietus ein entspannt diskursives Umsichschmiegen und rhetorisch wie händisch behändiges Ergänzen, um daraus in die Vivace-Fuge mit der separatistischen Unterstützung der Begleitung zu gehen, bei der sich Mietus als derjenige mit größerer artikulatorischer Sicherheit und phrasierendem Feingefühl zeigte. Während das andere Konzert für zwei Cembali (BWV1060) bei zunächst etwas unschlüssigerer Steichertongebung dann von Ribeiro und Ogg in der Beziehung von ehemaligem Schüler und Lehrer durch ein merklich vertraut-verständiges Musizieren geprägt war, kulminierte die Vorstellung im Concerto BWV1065. Alle vier Solisten – Ribeiro dabei mit den beliebten kleinen Rubati – erzeugten den eingangs erwähnten kräftigenden wie berauschenden Affekt des zwangsläufig durch das solo-, duo-, trio- oder tutti-formative Spiel dynamisch kontrastreichere Aufeinandertreffen der Instrumente, die ein krönend zupackendes Finale gestalteten.
Programmatisch on top – und in der Online-Ankündigung des SEMF zumindest verheimlicht – kamen zwei weitere Werke, die Ribeiros Gattin Inês d'Avena miteinbezogen: Bachs Zweites Brandenburgisches Konzert (ebenfalls runden Jahrestag feiernd) und die Triosonate BWV530, arrangiert für Blockflöte, Violine und Continuo. D'Avenas Altblocklöte, John Mas Geige, Beto Caserios Oboe und besonders Bruno Fernandes' hervorstechende naturbarocke Trompete mit ihren intonatorischen Ausreißern fabrizierten dabei im Brandenburgischen ein festliches wie transparent-knackiges Volumen, einen sehnsuchtsvollen Dialog und einen geläufigen Schwung. Mit der Sonate setzte sich in anfangs erhitzterer Weise dieses Bild eines effetvollen Gesprächs, diesmal mit den Melodiestimmen der Blockflöte und Violine, fort, in dem vor allem d'Avena nachdrücklich verlangend phrasierte und im Allegro mühelos mit einem tänzerisch befreit-temperamentbetonten, versöhnlichen Lied eine Energie verströmte, die New Collegiums Gratulationswünsche und Freude besang.
Die Vorstellung wurde vom Stream des Stockholm Early Music Festival rezensiert.