Nicht nur Unbekanntes bekannter zu machen, sondern auch allzu Bekanntes mit Dahinterliegendem, heute oft Vergessenem neu zu lesen, ist immerwährendes Anliegen René Jacobs'. Stück für Stück arbeitet er sich in der Operngeschichte so vor, nun – obwohl zunächst nicht auf seiner persönlichen Liste stehend – zur bühnenallgegenwärtigen Carmen Georges Bizets. Und zwar, wie bei seinen vorherigen Projekten, zu Schichten einer sich nähernden Urfassung, die – diesmal mit Paul Prévosts ganz neuen Ausgabe für den Bärenreiter-Verlag, von dem Jacobs zur Realisierung gebeten wurde – bei diesem beliebten Standardwerk einiges an anderem zu bieten hat. Ursprüngliche Arien oder die Mélodrames zum Beispiel, die Bizet in seiner Vorstellung der „modernen“ Oper 1874 wollte, doch auf Verlangen des Pariser Co-Operndirektors Camille Du Locle und seiner Hauptpartien für die zuvor verschobene Uraufführung am 3. März 1875 zugunsten stärkerer Hispanisierung, Vereinfachung und Kürzung verändert werden sollten.

Gaëlle Arquez (Carmen) und François Rougier (Don José) © Holger Jacoby
Gaëlle Arquez (Carmen) und François Rougier (Don José)
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Und natürlich die – typischerweise von Jacobs dann doch leicht bearbeiteten – Dialoge statt der Rezitative, die nicht von Bizet stammen, wurden sie erst nach dessen Tod drei Monate nach der Premiere für die Wiener Herbst-Tour von Ernest Guiraud komponiert. Auch klar bei Jaocbs' musikalischen Entdeckungen: die Verwendung epochengetreuer Instrumente. Mit seinem Orchesterpartner aus gebürtiger Heimat Gent, B'Rock, sorgte Jacobs durch seine Lieblingsdarstellung der halbszenischen Konzertanz für die Darbietung dieses weiteren, brandaktuellen Angebots an mehreren Orten.

Unter anderem in Deutschland, wo sich im Konzerthaus Dortmund, Debütstation für den Dirigenten, tatsächlich ein intensiveres französisches Intentionsflair offenbarte, das neben angesprochenen Partiturentscheidungen und Instrumentenschattierungen auch aus jener Rücksicht Jacobs' auf gelassenere Tempi zurückzuführen ist. Schließlich hatte Bizet jene zur nahenden Uraufführung angezogen, um nach Vorstellung der Hausleitung nicht zu sehr aus dem Ruder zu laufen. Allerdings waren Jacobs' Vorgaben dabei rhythmisch strikt und entgegen eines organischeren Dramamitgangs aus szenischer und gesanglicher Quelle. Generell geriet Jacobs' eigentlich aus dem Barocken erwachsene musiktheatralische Stärke manchmal ein klein wenig in den Hintergrund, zumindest in den ersten beiden Akten, ehe er mit dem herausgehobeneren Einsatz der Naturhörner, dann auch lebendigeren Streichern und Pauken, vermehrt zu ihr in den übrigen beiden Teilen fand. Dennoch hatte alles den – mit eben B'Rocks Besetzung – grundbedürftigen, positiven Nebeneffekt einer Entschlackung, hört man ansonsten zuweilen über jeden Evergreen „regulärer“ Carmen hereingebrochenes, übersteigertes Klang- und Stilpathos; von der jetzt dadurch größeren und außerordentlich guten Verständlichkeit bei Jacobs' Wahl, ebenfalls bei der Balance in tutto, ganz zu schweigen.

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Sabine Devieilhe (Micaëla)
© Holger Jacoby

Wiederum klassisch verzichtete der Dirigent in seiner Umsetzung nicht auf die szenisch-lautmalerischen, elementaren und in der Einfachheit immer sinnstiftenden Unterstützungseffekte, beispielsweise durch raumversetzte, schreitende Pistons, Sirenen, nächtlichen Bergwind oder knallenden Schusswaffengebrauch, die zudem – ebenso mit Jacobs-immanentem, modernbezüglichem Komik- oder Augenzwinkertouch bei jeder anrührenden Tragödie – durch das frische, ungleiche, spielfreudige Schmugglerduo Dancaïro (Emiliano Gonzalez Toro) und Remendado (Grégoire Mour) vokal und diktional, figürlich in Carmens erniedrigt-dümmlichen Exlover Lillas Pastia (Karlos Zouganelis) aufgenommen wurden. Am allerbesten gestaltete Jacobs die Einsätze des outfit- und formationenwechselnden Chœur de Chambre de Namur in seinen unterschiedlichen Rollenerscheinungen, als dieser entsprechend orchestraler, bei B'Rock stets sattelfester Mannschaft nicht zu dick, dafür umso garantiert schlagkräftiger, akkurater, deutlicher und beweglicher seine ureigenen Vorzüge auch in dieser Oper beachtenswert unter Beweis stellte. Het Kinderkoor van Opera Ballet Vlaanderen als unter jeweils bezugspersonaler Obhut stehende, uniformistische spöttisch-bewundernde Schar der Gassenkids reihte sich darin wunderbar ein.

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Gaëlle Arquez (Carmen)
© Holger Jacoby

Mit Gaëlle Arquez gewann die Produktion die vertraute Carmen jetziger Zeit. Ihre Mezzotiefe und Phrasierung, allgemein aus sich unmanieriert ergebende Stimmfreiheit und -farbigkeit unterstrich einmal mehr den resolut-leidenschaftlichen, verlangenden, dickköpfigen, aber nicht zu kitschig verruchten wie resolut-resistenten, sich ihrem bewussten, souveränen Charakter. In ihrer Figur der gegensätzlichen Micaëla neu dagegen Sabine Devieilhe, die in der schlanken, herausragend fein-elegant phrasierten, klaren, tugendhaften Art des silbrigen, rettenden Liebesbotengoldstücks vom Lande ebenfalls betörend war. Mit ihnen stimmlich – rollenmäßig ginge das zwar auf – nicht ganz mithalten sollte François Rougier als zwischen den persönlich schwankenden Welten verlorener Don José, dessen Tenor im drückenderen Forte eine angestrengtere Linie einschlug, wohingegen ihm leisere und darin übergängliche Passagen lagen. In seinem Metier war der Bariton Thomas Dolié, der ansonsten auch – nicht gerade stilistisch passend – im französischen Barock stammbesetzt ist. Als Escamillo präsentierte er sich mit torerogewand geschmeidig-weicher wie um reizende Wirkung kernig wissender Mittellage jedoch eben in sich aufgehoben und in das lobenswert Ungepresste der vokalen Tontruppe.

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Carmen
© Holger Jacoby

Zu ihr und diesem Befund gesellten sich auf Seiten macho-chauvinistischer Soldaten schmeichelnder Moralès (Yoann Dubruque), einerseits mit gefährlicher Wärme kaltschnäuziger, andererseits ab und zu leicht trockenerer Zunigas (Frédéric Caton); auf denen der Zigeunerinnen (statt kartenlegend tindermäßig über Handybildschirm wischend) zusammen harmonierend mit Mercedes (Séraphine Cotrez) und Frasquita (Margot Genet) auch exzellent farbige Stimmen dieser neuen, alten Carmen.

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