Der Auftritt russischer Künstler an den Salzburger Festspielen ist seit Beginn des Ukraine-Krieges ein Politikum. Diesen Sommer haben hier an ein und demselben Tag der Dirigent Teodor Currentzis und der Pianist Evgeny Kissin konzertiert. Während Currentzis schon im Vorfeld seiner diesjährigen Festivalauftritte heftige Kontroversen ausgelöst hatte, waren zu Kissins Erscheinen keine Proteste zu vernehmen. Denn der Pianist mit jüdischen Wurzeln, der Russland bereits 1991 verlassen hat, ist politisch nicht nur unverdächtig, sondern klar als Oppositioneller einzustufen. Zu Beginn der russischen Invasion hat Kissin einen offenen Brief unterzeichnet, in dem über vierhundert russische Musiker den Angriff auf die Ukraine verurteilten.

Musikalisch brachte Kissins Solistenkonzert im Haus für Mozart ein grossartiges Erlebnis. Während der erste Teil des Programms ein Potpourri unterschiedlicher Epochen und Stile darstellte, war der zweite Teil dem Komponisten Sergei Rachmaninow, aus Anlass seines 150. Geburtstags, gewidmet. Überraschend war der Einstieg mit der Chromatischen Fantasie und Fuge von Johann Sebastian Bach, gilt doch Kissin nicht unbedingt als Bach-Spezialist. Was man hier auf dem Steinway zu hören bekam, war alles andere als eine historisch orientierte Interpretation. Und dennoch konnte man ihr, unter den Prämissen von Kissins Ästhetik, eine Schlüssigkeit nicht absprechen. Sehr deutlich stellte der Pianist den ungestümen, improvisatorisch wirkenden Charakter der Fantasie der formalen Strenge der Fuge gegenüber.
Mit Mozarts Klaviersonate in D-Dur, KV311 erwies der Künstler dem Salzburger Genius loci die Reverenz. Strukturbewusstsein bei gleichzeitiger künstlerischer Freiheit, die Elemente, die schon bei Bach aufgefallen waren, gingen auch bei dieser Mozart-Sonate eine schöne Verbindung ein. Sehr „sprechend” vergegenwärtigte Kissin in allen drei Sätzen die Themen und Motive und verteilte dabei Licht und Schatten in manchmal unerwarteter Weise. Eine echte Überraschung bot die Interpretation von Frédéric Chopins Polonaise in fis-Moll, Op.44. Kissin versteht das Werk als politische Manifestation des Polen Chopin, der 1841 in seinem Pariser Exil als Künstler gegen den russischen Imperialismus in seiner Heimat angekämpft hat. Dementsprechend erschien die Polonaise unter den Händen Kissins nicht als Tanz, sondern als trotzendes, stampfendes Gebilde, durch langsames Tempo und viel Rubato emphatisch aufgeladen. Der feinziselierte A-Dur-Mittelteil mit seiner Terzen- und Sextenseligkeit dagegen hörte sich geradezu als Utopie einer besseren Welt an.
Die Kompositionen Rachmaninows, die Kissin im zweiten Teil seines Rezitals zum Besten gab, waren alle zwischen 1903 und 1917, also noch vor der Emigration des Komponisten in die USA, entstanden. Sie huldigen einem spätromantischen Stil, der, im Unterschied etwa zu jenem Skrjabins, die Ideen einer erweiterten Tonalität ablehnt. Diese Klangwelt Rachmaninows scheint Kissin aus dem Herzen zu sprechen. Zum Einstieg spielte er zwei Préludes aus den Opera 32 und 23. Beim Prélude in Ges-Dur, Op.23 Nr.10, bei dem die Melodie grundsätzlich in der Unterstimme liegt, gelang es dem Pianisten vorbildlich, auch die versteckte Polyphonie in den Begleitstimmen hörbar zu machen.
Den gewichtigsten Beitrag sparte sich Kissin auf den Schluss auf: Mit fünf Nummern aus den Études-Tableaux, Op.39 eroberte er das Publikum im ausverkauften Saal definitiv. Kompositorisch sind die Études-Tableaux, wie der Name sagt, eine Mischung aus pianistischer Virtuosität und bildhaft-poetischer Imagination. In der Nummer 2, Lento assai in a-Moll, zitiert Rachmaninow die gregorianische Dies irae-Melodie und verbreitet so eine endzeitliche Stimmung. Ein hartnäckig wiederkehrendes Motiv ist auch in der Nummer 4 gegenwärtig, die der Pianist in ständig wechselnder Beleuchtung vorführte. Vollgriffig und leidenschaftlich kam die Nummer 5, Appassionato in es-Moll, daher. Dass man dieses Stück, das sich scheinbar gleichzeitig auf der ganzen Klaviatur ausbreitet, mit nur zwei Händen spielen kann, dazu braucht es einen Virtuosen der Spitzenklasse. In der abschliessenden Marcia, einem Variationssatz über verschiedene Arten von Märschen, punktete Kissin nochmals mit seinen reichen Gestaltungsmöglichkeiten.
Mit dem tosenden Applaus holte das Publikum gleich drei Zugaben heraus, die selbstredend auch von Rachmaninow stammten. Und nach jeder strahlte Kissin, der sonst eher ein introvertierter Typ ist, mehr. Danach verliess man den Konzertsaal im Gefühl, einem der Grossen unter den heutigen Pianisten gelauscht zu haben.