Das Hagen Quartett musiziert seit 40 Jahren häufig Werke der Tradition, weil in ihnen nach deren erklärter Auffassung „immer noch so viel Potenzial“ steckt. In ihrem jüngsten Konzert im Pierre Boulez Saal, worin Quartette von Haydn und Debussy und, unter Mitwirkung Jörg Widmanns, Mozarts Klarinettenquintett auf dem Programm standen, wurden diese angesprochenen bereitliegenden Möglichkeiten in jedem Takt ausgeschöpft.

Während das Ensemble sich des d-Moll-Quartetts Haydns annahm, konnte man nicht allein bewundern, mit wie viel Sorgfalt und technischem Können das Hagen Quartett ans Werk geht, sondern wie genau seine Mitglieder das Werk studiert haben. Dies sei hier exemplarisch an zwei Punkten zumindest angedeutet:
Im Kopfsatz treiben Quinten, die doch den Grundstein aller harmonischen Tonalität bilden, ihr Unwesen und traten in dieser Darbietung zurecht als archaischer Fremdkörper im Tonsatz hervor. Zu Beginn der Durchführung ließen die Vier zunächst die unaufgelöste Dissonanz irritierend hervortreten und konnten danach die Quintschrittsequenz als etwas Errungenes inszenieren.
Im letzten Satz setzte die Reprise zunächst wie es gewohnt ist in d-Moll ein. Doch dann folgt seine variierte Wiederholung in D-Dur, aber nicht im großen Ton, sondern im pianissimo und unter Verzicht das Violoncellos. Das Hagen Quartett spielte diese verblüffende Stelle, als schlüpften die Vier in die Rolle des Komponisten, der offenbar bemerkt hatte, nur vergessen zu haben, dass die Wendung eines Mollwerks nach Dur noch einzubringen ist und dies auf ungewohnte Weise nachholte. Das ist der vielbeschworene Humor bei Haydn, und wenn er so umgesetzt wird, ist Haydns Musik lebendig!
Mit Debussys Streichquartett erklang eines der prominentesten Beispiele jenes Komponieren über ein thème cyclique, eines einzigen Leitgedankens, das für französische Kammermusik dieser Zeit so charakteristisch ist. Der erste Satz wurde vom Quartett nicht allein wie auf Nadelspitzen gespielt, sondern als Arabeske, als tönendes Rankenornament vorgetragen. Darum gab es im Kopfsatz auch keine verschwommenen Farben zu hören, die so oft die Werke des Impressionismus ins Konturlose ziehen. Nichts war verwaschen, stattdessen wurde nachgezeichnet, wie aus der unscheinbaren Gegenphrase des thème cyclique allmählich ein gleichberechtigtes zweites Thema entstanden ist. Durchweg erfüllte das Hagen Quartett Debussys den Wunsch, dass alle diese Verknüpfungen und Ableitungen stets unbemerkt bleiben sollen. So war es mit Sicherheit auch gewollt, dass in der Reprise des zweiten Satzes die in die zweite Violine verlagerte Variante des thème cyclique nicht hervorgehoben wurde, sondern im Pizzicato völlig verschwand.
Jörg Widmann spielte seinen Part in Mozarts Klarinettenquintett von der Mitte des Ensembles aus. In diesem filigranen Zugriff wirkte die Darbietung abgeklärt und doch von Melancholie beschattet. Mit Girlanden fand sich Widmann in den Satz ein, die erst in der Durchführung zum Gegenstand des Diskurses wurden, in dem dann auch die Streicher diese Gewinde vortrugen. Neben Widmann nahm sich auch Lukas Hagen agogische Freiheiten, um einzelnen Passagen fast unmerklich einen Schleier des Zweifels überzuziehen.
Im letzten Satz kamen die Variationen über ein Kinderlied im Gewand einer Gavotte zu Gehör. Widmann ließ in der ersten Variation tatsächlich ganz vorsichtig einen Harlekin auftreten. Veronika Hagens herbstlich klagende Bratsche konnte den Übermütigen in der dritten Variation nicht bremsen. Erst die heftigen Akkordschläge und eine Fermate zwangen das kleine Narrentheater zu einer Unterbrechung. In der Adagio-Variation besannen sich die Musiker, und auch die Klarinette fand allmählich ihre Stimme wieder. Die Zeit blieb stehen. Der Springtanz erklang danach nicht als Wiederholung, sondern wie noch nicht gehört. In der Tat: Wenn die vermeintlich bekannten Werke so lebendig aufgeführt werden, erklingt keine „Museums-Musik”.